Der Preflight Check

Risikokompetenz für Rookies

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«Man muß die Dinge so einfach wie möglich machen. Aber nicht einfacher.»
Albert Einstein

Die Entwicklung eines Tools fürs Risikomanagement im Gleitschirmfliegen ist ein ewiges Ringen zwischen den Polen «zu einfach» und «zu kompliziert». Je einfacher die Methode ist, desto eher wird sie angewendet. Es könnten aber zu viele Faktoren der komplexen Materie Meteorologie ausgeblendet und das Netz viel zu grobmaschig werden. Je genauer und somit komplexer die Methode hingegen ist, desto weniger kann sie innert nützlicher Frist angewendet werden – schon gar nicht vom Rookie.

Müsste ich heute das Risikomanagement beim Gleitschirmfliegen in einem Satz formulieren, würde ich sagen:

«Pilot/in, meide Turbulenz in Bodennähe!»

In diesem Satz stecken die 3 wichtigsten Zutaten drin:

  • Ein Mensch, der Entscheidungen fällt
  • ein bestimmter Ort im Gelände
  • eine erhöhte Windgeschwindigkeit

Ich möchte noch nachschieben «Pilot/in, habe Spass!». Positive Flugerlebnisse zeigen, dass ich im anregenden Bereich zwischen Über- und Unterforderung unterwegs bin (Flow-Channel). Daraus ziehe ich die Motivation für den nächsten Flug oder ein ganzes Fliegerleben. Als Fluglehrer darf ich mich übrigens auch nach jedem Schulungstag fragen, ob es mir und den Piloten Spass gemacht hat? Erfahrungswert für mich als Fluglehrer: Wenn sich der Tag etwas langweilig anfühlt, sind wir im grünen Bereich und der schwächste Teilnehmer ist noch nicht überfordert.

Turbulenz ist unsichtbar

Das Heimtückische an der Geschichte ist, dass Turbulenzen meistens unsichtbar sind! Nur selten zeigen Wolken mit ihrem verwirbelten Bild die Turbulenzen an – schon gar nicht in Bodennähe. Ich habe es also beim Gleitschirmfliegen mit einer Aktivität in einer potentiell wilden Umgebung zu tun: Die meisten Risiken bleiben unsichtbar. Das tönt nun vielleicht bedrohlich und wenig spassig? Aber ich kann diese Situation auch als Herausforderung annehmen: Eine Einladung von Mutter Natur zur Schärfung meiner Sinne.

Wilde Umgebung schärft die Sinne

Gleitschirmfliegen ist wohl eine der wenigen verbleibenden «wilden» Umgebungen, in denen ich zu 100% selbst verantwortlich für meine Entscheide bin. Ähnlich dem Bergsteigen oder weiteren Sportarten, die mit der Kraft der Elemente arbeiten. Niemand leitet mich. Keine Blitzkästen am Strassenrand, keine Warnschilder und auch keine Leitplanken. Das Freiheitsgefühl ist einzigartig. Der Preis dafür sind jedoch – verglichen mit einfacheren Sportarten am Boden – deutlich erhöhte Anforderungen an mich als Piloten.

Wenige Flugtage sind total unfliegbar oder total harmlos. Meistens entwickelt sich der Tag irgendwo zwischen diesen Polen. Viele Faktoren sind passend, doch stets ist da etwas Störendes, das Unsicherheiten beim wenig erfahrenen Piloten hinterlässt. Vielleicht stehen trotz blauem Himmel Begriffe wie «Gewittertendenz», «mässige Talwinde» oder «leicht föhnig» im Raum. Um den Spass am Fliegen zu behalten, gibt es nun 2 Möglichkeiten:

  • Ich ignoriere die Risiken, was mir durch deren Unsichtbarkeit prima gelingt
  • Ich werde ein bewusster Pilot, der die Risiken erkennt und mit angepasstem Verhalten reduziert

Der Preflight Check richtet sich an Rookies, die den bewussten Weg einschlagen möchten

Als ich vor 9 Jahren das geschützte Nest der Flugschule verliess, sah ich mich plötzlich mit einigen Unsicherheiten konfrontiert. Auch die Wirkung der Wunderpille «überhöhtes Selbstvertrauen» flachte stossweise ab. Aus dem anfänglich spassigen Freizeitsport wurde eine fordernde Aufgabe, die sich kaum mit einem Flugtag pro Monat meistern lässt (ein Flugtag pro Woche kommt der Sache schon näher). Ich bin jedoch überzeugt davon, dass dieses Rookie-Stadium mit der nötigen Hingabe innert weniger Jahre hinter sich gelassen werden kann. Ich bewahre mir trotzdem ein Krümelchen des Rookies: Eine Mischung aus Offenheit, Staunen und Respekt. Die Lektionen von Mutter Natur sind grossartig und ungepolstert.

Chancen & Strategien | Risiken & Reduktionsmassnahmen

Ein Flugtag bietet Chancen, die ich mit angepasstem Verhalten nutzen kann: Für den Thermikflug, die Soaring-Session oder den ruhigen Sonnenuntergangsflug muss ich zur passenden Zeit am entsprechenden Ort sein und dort das Richtige tun. Das selbe Vorgehen bewährt sich auch im Umgang mit den Risiken: Ich mache diese zuerst sichtbar und reduziere sie dann mit angepasstem Verhalten auf ein akzeptables Mass. Man stelle sich eine Balkenwaage vor. Auf der einen Seite staple ich die sichtbar gemachten Risiken auf. Auf der anderen Seite gleiche ich mit angepasstem Verhalten aus.

Ich weiss also zum Beispiel, dass der kräftige Talwind im Fluggebiet an diesem Sommertag vom Höhenwind verstärkt wird. Es drohen am Nachmittag Windstärken von 40 km/h+ im Bodenwindfeld.  Zur Reduktion des Risikos kann ich als Rookie:

  • grosse und lange Alpentäler im Sommer am Nachmittag meiden
  • am Vormittag fliegen, zeitig landen, Siesta am See machen und eventuell am Abend nochmals fliegen
  • die Windwerte an den Stationen überwachen
  • Leegebiete und Düsen des Talwindes meiden
  • den grösstmöglichen und frei angeströmten Landeplatz anfliegen und mit 101% Konzentration und aktivem Flugstil durch den Bodenwindgradienten gelangen
  • Wenn ich den starken Talwind erst in der Luft bemerke, kann ich einem Prallhang aufsoaren und an einer erhöhten Lage im LUV einladen oder hoch oben in der Luft abwarten

Risiken kann ich nicht gänzlich vermeiden, aber erkennen und durch angepasstes Verhalten minimieren. Bleibt die Risikowaage Richtung Gefahr hin geneigt und bleibt das Restrisiko trotz den Reduktionsmassnahmen zu gross, habe ich stets die Freiheit, auf den Flug zu verzichten und das Wetter vom Boden aus zu beobachten. Der nächste gute Flugtag für mich kommt bald!

16 Fragen zu Mensch, Gelände, Verhältnisse und Luftraum

Nach vielen Entwürfen enthält der vorliegende Preflight Check einen Katalog von 16 Fragen, um unsichtbare Risiken in den Bereichen Mensch, Gelände, Verhältnisse und Luftraum sichtbar zu machen. Es finden sich Links zu Informationsquellen und Vorschläge für Reduktionsmassnahmen. Mit etwas Übung ist der Preflight Check in 15 Minuten erledigt. Es ist aber völlig in Ordnung, wenn er zu Beginn 1 Stunde Zeit in Anspruch nimmt.

Ein guter Zeitpunkt für den Preflight Check sind der Vorabend oder der Morgen vor dem Flugtag. Da stehen noch viele Möglichkeiten offen. Je näher ich am Startplatz bin, desto weniger Alternativen habe ich. Zudem verschiebt sich mein Bewusstsein immer wie mehr in den Handlungsmodus, der für analytische  Gedankengänge nur noch vermindert zugänglich ist. Spätestens, wenn mein Schirm ausgepackt ist, fällt mir ein Verzicht schwer. Vielleicht erreichen mich in dieser Situation noch die NO GO’s ganz am Schluss des Preflight Checks? Die kritischen Werte überprüfe ich vor dem Start erneut, denn nachher gibt es kein Zurück mehr; ich muss meinen wilden Bullen durchs Rodeo sicher zu Boden reiten. Je weiter vom Hang entfernt ich dies tue, desto erträglicher wird es für die Zuschauer sein.

Der schmale Grat zwischen Respekt und unnötiger Verunsicherung

Der Alpinismus und andere Disziplinen wie Luftfahrt oder Medizin sind sehr weit im Risikomanagement. Viel erprobtes Wissen steht zur Verfügung. Die Komplexität der bodennahen Meteorologie erfordert dennoch einige Verfeinerungen und ich fand bis jetzt kein Konzept, dass ich 1:1 übernehmen konnte. Im Chill Out Team ringen wir seit einem halben Jahr kontinuierlich um die Formulierung der Fragen, die  Gewichtung der Risiken und die Nützlichkeit der Reduktionsmassnahmen. Ein spannender und lehrreicher Prozess. In einigen Sachverhalten sind wir uns einig, in anderen gehen die Meinungen auseinander. Wir möchten den Rookie nicht unnötig verunsichern, aber trotzdem gewisse Risiken sichtbar machen.

Die Lösung liegt im «bewussten Piloten». Er kann gerade wegen dem gemachten Preflight Check entspannt fliegen, da er weiss, worauf heute zu achten ist. Nicht vorhandene Risiken dürfen an diesem Tag getrost auch mal ausgeblendet werden. Ja, es gibt trotzdem viele Tage oder Tageszeiten, wo völlig sorgloses Fliegen möglich ist; insbesondere im kuschelig geschützten Fluggebiet Interlaken.

Die Grenze zwischen «knapp fliegbar» und «knapp unfliegbar» ist fliessend und hängt zum grossen Teil von den Fähigkeiten des Piloten ab. Ich muss den Entschied letztendlich selber fällen. Der Preflight Check hilft primär, Fehler durch fehlendes Wissen zu vermeiden (Knowledge Based Errors). Für die Vermeidung von Fehlern aufgrund fehlender Fähigkeiten (Skill Based Errors), also ob ich die Bremse im entscheidenden Moment zu wenig oder zu fest ziehe, verweise ich gerne auf den Bereich des Skills Trainings >, des Skills Checks > oder ganz allgemein auf den Bereich Weiterbildung von Chill Out.

„Das muss auf den Bierdeckel passen, sonst geht es nicht in die Köpfe der Menschen“
Werner Munter

Leider sind alle meine Versuche bisher gescheitert, das Risikomanagement beim Gleitschirmfliegen auf einen Bierdeckel zu reduzieren. Das Netz wurde viel zu grobmaschig. Vielleicht findet jemand von euch eine schöne Lösung dafür? Vielleicht ist es die Aufgabe eines jeden Piloten, sich seinen persönlichen Bierdeckel mit Regeln zum Risikomanagement zurechtzulegen? Ansage von Bänz: Jeder persönliche Entwurf eines solchen Bierdeckels wird von mir mit einem Getränk aus dem Chill Out Kühlschrank gewürdigt! Werner Munter meinte mit dem Bierdeckel natürlich nicht die gesamte strategische Lawinenkunde, sondern eine simple und smarte Entscheidungshilfe im Gelände. Mehr dazu: bergundsteigen 4/07 >

Allen, die ihr nützliches Feedback zur Version 1 abgegeben haben, möchte ich an dieser Stelle nochmals danken! Ich habe die Feedbacks gewichtet und zur vorliegenden Version 2 des Preflight Checks verarbeitet. Mein Wunsch ist es, dass der Preflight Check verständlich und nützlich für den Rookie ist. Dem Unsicheren soll er Klarheit und Mut geben, dem allzu Sorglosen darf er ruhig etwas Respekt einjagen. Der Preflight Check soll nach Einsteins Worten «so einfach wie möglich, aber nicht einfacher» als das sein.

Hilf mir mit deinem Feedback!

Ob dies gelingt, erfahre ich nur aus deinem kritischen Feedback. Bitte lasse mir dein Feedback, deine Erfahrungen und deine Inspirationen zum Preflight Check zukommen: bendicht@chilloutparagliding.com

In rund einem Jahr überarbeite ich den Preflight Check zur V3 und bin sehr gespannt, wo das Projekt dann stehen wird. Bis dahin:

Viel Spass im Schulzimmer von Mutter Natur!

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