Restrisiko?

Ein Erlebnisbericht

Text: Simon von Fischer & Bänz Erb, 2021
Foto: Fabian Equey


Just Culture

Vorwort von Bänz

An einem heissen Nachmittag im August genoss ich beim Landeplatz Stechelberg zusammen mit meinem Tandempassagier ein kühles Getränk. Der Blick Richtung Schwarzmönch war durch Sonnenschirme verdeckt. Als mein Blick mal in diese Richtung ging, sah ich einen Gleitschirm oberhalb einer Felswand hängen. Der Pilot befand sich in der Wand, sein Schirm hatte sich oberhalb in kleinen Bäumen verfangen. Kurz darauf begann die Rettung per Longline. Wie zu erwarten, erschienen am Folgetag die Bilder in den Medien. Der Blick titelte: «Gleitschirm-Pilot wird sepktakulär aus Felwand gerettet». Der Artikel schliesst mit den Worten: «Der Pilot hat riesiges Glück: Er bleibt fast unversehrt.» [i]

Zwei Tage nach dem Zwischenfall erreichte mich eine Mail von genau diesem Piloten. Er möchte den Vorfall im Gespräch mit einem Mentaltrainer und Fluglehrer einordnen. Zudem möchte er dazu beitragen, dass andere etwas lernen können. Simon möchte «andere Piloten/Flugschüler davor bewahren, das Glück so herausfordern zu müssen.» Dieser Wunsch ebnete den Weg, gemeinsam diesen Text zu veröffentlichen.
Ich habe Respekt davor, wie produktiv Simon mit seinem Zwischenfall umgeht und wie offen er seine Gedanken teilt. Ehrliche Selbsteinschätzung ist in unserem Sport eine Kunst, die regelmässiges Training erfordert.

Der offene Austausch über Zwischenfälle wird in der Luftfahrt «Just-Culture» [ii] genannt. Das Melden von kritischen Zwischenfällen bleibt straffrei, während das Vertuschen geahndet wird. Das Ziel des gemeinsamen Lernens aus Zwischenfällen wird höher gewichtet als das Prestige des betroffenen Piloten. Man überwindet das Wunschbild des unfehlbaren Helden der Lüfte und konzentriert seine geistige Energie darauf, wie man die Risiken in komplexen Systemen senken könnte. Das gelingt nur mit einem Kulturwandel in Organisation, Gesetz und Fliegerszene. Just Culture benötigt passende Rahmenbedingungen, die in einem längeren Prozess entwickelt werden. Der Weg führt von einer «Blaming Culture» hin zu einer «Learning Culture»: Statt einen Schuldigen zu suchen, werden solche Ereignisse als Dünger für Lernprozesse gesehen.

Obwohl man aus den Berichten über Zwischenfälle viel lernen kann, bergen sie die Gefahr in sich, andere Piloten zu verunsichern und ihnen den Spass am Sport zu trüben. Es gilt also, Nutzen und Schaden abzuwägen.

Bei Simons Erlebnis schwankt meine Waage: Obwohl ich aus dem Bericht Schlüsse für mein eigenes Risikomanagement ziehen kann, lässt er sich für mich nicht in eine Schublade verstauen. Denn als Pilot sehne ich mich jeweils nach einer einfachen Ursachenerklärung: «Mach in Situation X immer Y, und du bist sicher unterwegs». Anstelle dessen bleibt eher die Frage nach dem Restrisiko unseres Sports in der Luft hängen. War Simon einfach zur falschen Zeit am falschen Ort? Selbstverständlich erhöht genug Abstand zum Hang die Sicherheitsmarge. Doch um hangnahe Thermik zu nutzen, muss man sich hangnah in turbulenter Luft bewegen – sonst steht man bald am Landeplatz, während die anderen hoch oben drehen und ihren Spass haben. Vielleicht wird man zusätzlich zum Absauf-Frust noch mit der Frage konfrontiert, weshalb man denn so früh landen gegangen sei?
Wo setze ich in turbulenter Luft die Grenze zwischen Kämpfen und Fliehen? Anspruchsvoll wird diese Entscheidung zudem, wenn an besagter Stelle ein Jahr vorher erfolgreich hangnah in thermischer Luft geflogen wurde. Und weshalb sollte ich genau dann wegfliegen, wenn mir fünf andere Gleitschirme das Steigen anzeigen?

Ich könnte meine innere Spannung angesichts dieses Textes auch auflösen, indem ich den Piloten abwerte und zum Täter mache. Ich könnte dazu den «Glauben an eine gerechte Welt» [iii] bemühen: Eine gerechte Welt ist überschaubar und hat klare SpielregeIn. Jeder kriegt, was er verdient. Schlechten Menschen passieren demzufolge schlechte Dinge. Also war der Pilot halt einfach ein schlechter Pilot. Da ich mich hingegen als guten Piloten einschätze, wäre meine Welt wieder in Ordnung und ich bräuchte mich beim hangnahen Thermikflug am Schwarzmönch nicht vor heimtückischen Turbulenzen zu fürchten.

Oder vielleicht löse ich das Problem der inneren Spannung angesichts dieses Textes mit Ignoranz, indem ich den Bericht gar nicht lese? Vielleicht verfüge ich über gute Vermeidungsstrategien, damit ich solche Gedanken in turbulenter Luft ausblenden kann? Die individuellen Bewältigungsstrategien sind zahlreich und haben jeweils ihre Vor- und Nachteile.

Dieser Beitrag stützt sich auf die Position, dass eine offene Kommunikation über Zwischenfälle in unserem Sport sowohl für den Betroffenen wie auch für die Szene von Nutzen ist. Denn Risiken verschwinden ja nicht, wenn man sie verschweigt. Selbstverständlich darf in der Szene kontrovers diskutiert werden, welche Vor- und Nachteile eine offene Kommunikation über Zwischenfälle und Risiken hat.

Wie dem auch sei, Simons Erfahrungsbericht bietet eine Gelegenheit, seinen eigenen Umgang mit Negativmeldungen im Gleitschirmfliegen zu beobachten. Auch dies gleicht einer Kunst, die Training erfordert: Aus Zwischenfällen lernen, sich dabei aber nicht unnötig verunsichern lassen.


Text von Simon

11.8.2021

Am Vorabend des geplanten Hike&Fly ist die Wetterlage noch etwas unklar. In der Höhe ist Wind prognostiziert und am frühen morgen noch hie und da ein Regenschauer. Danach aber Wetterbesserung. Als Ziel für den morgigen Tag haben wir das Lauterbrunnental. Wir machen ab, dass wir uns in Thun auf dem Zug Treffen und dann aufgrund der aktuellen Wettersituation noch definitiv entscheiden, welchen Weg wir genau einschlagen. Tags darauf treffen wir uns wie vereinbart auf dem Zug. Das Wetter scheint noch unwillig für fliegerische Aktivitäten und es ist Richtung Interlaken noch recht wolkenverhangen. Mein Flugfreund und ich sind schon einige Male zusammen unterwegs gewesen und so starten wir auch heute ohne grosse Erwartungen. Er hat Ferien und ich habe einen freien Tag, den ich sowieso geniesse, egal ob’s fliegt oder nicht. Wir beschliessen wie geplant ins Lauterbrunnental zu fahren und Richtung Rottalhütte zu gehen. Auf halber Höhe des Hüttenwegs gibt es geeignete Matten, von denen gut gestartet werden kann. Im Zug nach Lauterbrunnen gibt es noch leichte Regenschauer, aber man kann hinten im Tal schon einzelne blaue Löcher am Himmel erkennen. Von Lauterbrunnen fahren wir mit dem Postauto bis zur Endstation Rütti und gönnen uns noch gemütlich einen Kaffee im Restaurant. Als wir wieder heraus kommen ist der Himmel schon fast komplett klar. Zuversichtlich machen wir uns auf den Weg Richtung Hütte. Während des Aufstiegs bessert sich das Wetter weiter und wird allmählich zu einem strahlenden Sommertag. Nach schweisstreibenden 1046 Höhenmetern erreichen wir unseren Startplatz in der Madfura. Wir geniessen das mitgebrachte Mittagessen, die Aussicht und schauen ein paar Gleitschirmen zu, die auf der anderen Talseite nach Thermik suchen. Es scheint noch wenig Thermische Aktivität zu geben und wir lassen uns Zeit. Wir haben nicht vor auf Strecke zu gehen, aber ein wenig den Flug verlängern und ein bisschen oben bleiben wäre eine nette Zugabe zu diesem ohnehin schon wunderschönen Hike&Fly.

Um 14:30 starten wir bei perfekten Startverhältnissen. Die erste halbe Stunde Soaring ist eigentlich eher verlangsamtes Sinken bis auf halbe Abflughöhe. Danach wird es besser und ich gewinne wieder gut an Höhe. Es sind nicht ganz einfache, etwas turbulente, Verhältnisse und es braucht Geduld und Konzentration. Ich merke, dass ich mich ab und zu bewusst etwas entspannen muss in meinem Sitzgurtzeug. Nach einer guten Stunde Soaring zusammen mit meinem Freund und weiteren vier Gleitschirmen sehe ich etwas vor mir ein Tandem mit gutem Steigen und folge ihm. Kontinuierlich steige ich bis zum Wendepunkt unterhalb des Mönchsbüffels, drehe um und steige weiter.

Plötzlich wird das Steigen stärker und ich merke, wie es mich leicht in Richtung Felswand zieht. Während ich noch weiter steige, zeihe ich etwas die Aussenbremse um von der Felswand weg zu kommen. Genau in dem Augenblick falle ich aus dieser aufsteigenden Luft und der Schirm schiesst heftig vor. Es geht alles sehr schnell und doch sehe ich meinen Schirm wie in Zeitlupe horizontal vor mir. Mein Gedanke: Der Schirm wird jetzt klappen und dann wird etwas ganz Arges passieren. Ich erwarte einen Frontklapper aber der Schirm klappt eher links auf der Seite, wo sich die Wand befindet. Jetzt werde ich durchgeschüttelt und verliere komplett die Orientierung. Es gibt keine Gedanken und kein überlegtes Handeln mehr. Alles passiert einfach. Das nächste was ich wieder bewusst wahrnehme ist, dass ich links über die Schulter blickend sehe, wie ich auf die Felswand zu schwinge. Intuitiv ducke ich mich für den Aufprall zusammen und schon knallt es.

Danach Stille. Ich schaue hoch und sehe, dass sich mein Schirm in ein paar Föhren verfangen hat, die über einer abfallenden Wand auf einem Vorsprung wachsen. Ich bin ganz ruhig. Keine Panik, spüre kaum Schmerz. Erste Gedanken schiessen mir durch den Kopf: Was sage ich meiner Frau? War das jetzt wirklich nötig? Ich baumle einen knappen Meter von der Wand entfernt vor einem vertikalen Riss. Als Kletterer ist mir das Gefühl, hoch oben in einer Felswand zu hängen, nicht fremd. Ich weiss, ich werde jetzt mit dem Helikopter gerettet werden. Mit meinem Freund bin ich per Funk verbunden. Er meldet sich bei mir: «Hey ich hab’s mitbekommen und bin am Landeplatz. Wie geht es dir?» «Ich bin OK» antworte ich. Nach Absprache melde ich mich selbst bei der REGA. Sie alarmieren die AirGlacier und sagen, sie melden sich wieder bei mir. In der Zwischenzeit ziehe ich mich an den Riss heran. Ich denke, ich könnte die 2-3m am Riss entlang hochklettern und auf dem Vorsprung warten, verwerfe aber den Gedanken wieder, da ich auf keinen Fall noch ein zweites Mal mit einem Fall den Schirm belasten will. Ich ziehe stattdessen den unbenutzten Beschleuniger zwischen meinen Beinen hoch und lege ihn um eine kleine Felsspitze. So habe ich eine minimale zusätzliche Sicherung, da ich nicht weiss, was mit dem Schirm im Abwind des Helikopters passieren wird.

Nach weiteren 5 min ist der Helikopter der AirGlacier mit der Longline da. Zwei Bergetter werden oberhalb meiner Position auf dem Vorsprung abgesetzt. Der eine sichert und der andere seilt sich zu mir ab. Da ich zu keiner Zeit bewusstlos war und auch sonst keine schweren Verletzungen zu haben scheine, gelingt die Rettung relativ einfach. Wir versuchen noch den Schirm beim Hochziehen mitzunehmen. Doch er ist zu sehr in dem Baum verhängt und wir kappen die Leinen.

Im Hangar wartet ein Arzt um eine erste Einschätzung zu machen. Ich scheine den Aufprall recht gut überstanden zu haben. Trotzdem werde ich im Spital Interlaken zur Kontrolle angemeldet. Langsam werden die Schmerzen spürbar. Ich melde mich bei meiner Frau und sage, dass ich einen Unfall hatte aber alles OK sei. Ein Mitarbeiter fährt mich zum Spital. Röntgen, Ultraschall, Blutbild usw. Alles OK. Rippen sind geprellt oder gebrochen, aber nicht verschoben. Das heisst nach 4-5 Wochen mit Schmerzmitteln sollte ich keine körperlichen Schäden mehr haben. Glück im Unglück. Mein Bruder holt mich im Spital ab und ich sehe auf der Heimfahrt kurz vor Spiez einen wunderschönen Sonnenuntergang. Kitsch pur. Ich bin froh meine Frau und mein kleiner Sohn zuhause in die Arme nehmen zu können.

Und jetzt? Ende gut alles gut? Schirm kaputt, Schmerzen gross, erstmal nichts mit Fliegen. Klar. Doch allmählich kommt das Gedankenkarussell. Krass…ich hab’s überlebt! Ist das mein zweiter Geburtstag? Warum? Was habe ich falsch gemacht? Habe ich überhaupt etwas falsch gemacht? Wars Restrisiko? Kann ich jetzt nie mehr fliegen? Will ich das denn noch? Wie ist das für mein Umfeld, wenn ich sage, ich will wieder Fliegen? Ist das Verantwortungslos mit Frau und einem kleinen Kind? Etc.

Ich melde mich bei einem Mentalcoach, verabrede mich zu einem sogenannten Entlastungsgespräch. Der Coach ist auch Fluglehrer und so habe ich jemanden, der versteht, von was ich rede. Das Gespräch hilft. Es gibt keine konkreten Antworten auf meine Fragen. Dafür das Verständnis, dass diese Fragen zwar da sein und nie abschliessend beantwortet werden können, das aber OK ist.

Ich habe das Brevet seit 2016. Zum Zeitpunkt des Unfalls hatte ich ca. 225 Flüge (inkl. Flugschule) und an die 150h Airtime. Ein paar kleinere Streckenflüge von 1-4 h und 10-40 km. Ich habe keinen SiKu gemacht. Ich habe einige Male als Startleiter geholfen und dabei unter Anleitung Stallpunkt erflogen. Ich flog zum Zeitpunkt des Unfalls einen Schirm der Klasse (low)B und ein Sitzgurtzeug mit Airbag. Meiner Ansicht nach war ich immer eher defensiv unterwegs. Hatte nie Probleme auch mal umzukehren oder nicht zu fliegen, wenn es nicht passt. Scheute mich jedoch auch nicht davor Herausforderungen anzunehmen und etwas zu wagen. Für mich war das Gleitschirmfliegen, so wie ich es betrieb, mit der Verantwortung der Familie gegenüber vereinbar.

Ob mein Unfall mit mehr Training und Erfahrung vermeidbar gewesen wäre, kann niemand genau sagen. Fakt ist, dass man in so einer Situation nicht ansatzweise Zeit hat, um zu überlegen, was die angebrachte Reaktion ist. Das gelingt höchstens intuitiv. Ich habe z.B. nicht die geringste Ahnung, ob ich die «Hände hoch» hatte oder nicht.

Mittlerweile bin ich eigentlich recht klar der Überzeugung, dass ich mit meinen Flug-Skills dort nicht hätte fliegen sollen und auch die vorher gemachten Flüge vor allem deshalb so gut gelaufen sind, weil das Restrisiko eben doch recht klein ist. Mit so wenig Erfahrung und Training ist eine intuitiv richtige Reaktion bei so einem Ereignis nicht möglich. Um in solchen Situationen intuitiv richtig reagieren zu können, braucht es regelmässiges Training. Der gleiche Klapper in freier Luft, wäre wahrscheinlich auch ohne ideale Reaktion kaum ein Problem gewesen. Nicht aber in Geländenähe, wo es wichtig ist, in der gewünschten Flugrichtung zu bleiben.

Ob ich wieder fliegen werde, weiss ich Momentan noch nicht. Ich möchte aber sicher noch mindestens einen Flug machen, um zu schauen wie mein Gefühl dabei ist. Ausserdem möchte ich nicht, dass mein Unfallflug der letzte Flug war. Das wäre ein unschöner Abschluss, wenn ich mich dazu entscheide vorläufig nicht mehr zu fliegen. Falls doch, dann wird es sicher eher im Bereich Hike&Fly sein, wo es nicht darum geht, den Flug zu verlängern, sondern einfach zu geniessen. Deswegen habe ich ja eigentlich auch mit dem Gleitschirmfliegen angefangen. Für Thermik- und Streckenflüge, wo man zwangsläufig früher oder später in der Nähe des Geländes fliegt, habe ich momentan schlicht zu wenig Zeit, um so oft zu fliegen, dass ich das nötige Training habe und es somit für mich weiterhin verantwortbar wäre. Wenn ich das Fliegen in thermischer Luft und nahe am Gelände auf ein Minimum reduziere, sprich nur noch Abgleiter mit geplantem Start- und Landeplatz mache, sollte ich somit einen Umgang mit dem Fliegen finden können, der sowohl für mich, als auch für mein Umfeld stimmt.

Ich hoffe, dass mein Erlebnisbericht anderen Piloten dabei hilft, für sich selber die richtigen Schlüsse zu ziehen, damit möglichst viele solche Vorfälle vermieden werden können. Soviel Glück im Unglück zu haben ist selten!


Let’s talk about it!

Nachwort von Bänz

Simons Offenheit beeindruckt mich. Nur selten erhält man einen detaillierten Einblick in die kreisenden Gedanken eines verunfallten Piloten. Ich bitte die Leserschaft im Sinne einer gelebten «Just Culture», dieser Ehrlichkeit mit Respekt und Vertrauen zu begegnen.

Simon beschreibt, dass die Geschichte nach erfolgter Rettung noch nicht zu Ende ist. Wenn der Körper in Sicherheit ist, folgt eine Zeit der psychischen Verarbeitung. Statt sich über den glücklichen Ausgang zu freuen, füllen Zweifel und Grübeleien den Geist: Was habe ich falsch gemacht? Was denkt meine Familie über mich? Was denken andere Piloten über mich? Darf ich dieses Hobby meiner Familie noch zumuten?
Das Aufschreiben dieser Gedanken kann bereits hilfreich sein. Man verschafft sich etwas Distanz zu ihnen.

Ein Absturz mit dem Gleitschirm in felsigem Gelände sprengt den Rahmen des alltäglichen Erlebens. In Folge können die normalen psychischen Verarbeitungsmechanismen überfordert sein. Das Erlebnis bleibt unverarbeitet zurück und ordnet sich nicht in das Alltagserleben ein. Je nach persönlicher Voraussetzung können diese Ereignisse in Folge sehr belastend und potentiell traumatisch sein.

Solche Ereignisse beim Gleitschirmfliegen führen häufig zum Aufgeben des Sports oder zu Flügen mit vermehrter Anspannung und Angst. Ein strukturierendes Gespräch, welches das Erlebte auf verschiedenen Ebenen einordnet, kann helfen, Anspannung, Angst und Stress zu reduzieren. In Einsatzorganisationen wie Polizei, Feuerwehr, Sanität oder auch in Teams auf Notfallstationen werden nach belastenden Einsätzen solche Gespräche durch Peers (erfahrene Kollegen mit Zusatzausbildung) geführt. Die einfachste Form eines solchen Gespräches ist das Kollegiale Entlastungsgespräch [iv]. Häufig gelingt es, mit dem Gespräch eine Verarbeitung des Erlebten anzustossen oder zu verbessern. Zudem verfügt der ausgebildete Peer über minimales psychologisches Wissen, um bei Bedarf weitergehende Betreuung zu empfehlen.

Es ist ganz normal, wenn Flüge nach einem Zwischenfall von starken Emotionen begleitet werden. Es handelt sich dabei um normale psychische Reaktion auf ein aussergewöhnliches Ereignis. Oft klingen diese Reaktionen mit der Zeit ab. Zudem kann man selbst Wichtiges dazu beitragen, um das Erlebnis zu verarbeiten. Problematisch für die Verarbeitung ist eine Vermeidung des Fliegens. Dies könnte sich darin äussern, dass man immer neue Gründe findet, weshalb man gerade jetzt nicht fliegen gehen kann. Oder dass man spätestens am Startplatz jeweils kehrt macht.

Let’s talk about it! Reden hilft bei der Verarbeitung des Erlebten. Ist die zuhörende Person zudem in Gesprächsführung geschult, kann das Gespräch noch mehr Wirkung entfalten. Üblicherweise finden diese Gespräche in einem geschützten Rahmen statt und es gilt seitens des Zuhörenden die Schweigepflicht. Eine Veröffentlichung solcher Erfahrungsberichte findet nur statt, wenn es Wunsch des Betroffenen ist und im Sinne einer gelebten «Just Culture» von Nutzen erscheint.

Simon wünsche ich für seine Zukunft alles Gute: Sei es in der Luft oder am Boden. Egal, ob er sich seinen Ausgleich zum Alltag am Gleitschirm oder sonst wo gönnt – möge er das Erlebnis weiterhin positiv verarbeiten und persönlich daran wachsen.


Feedbacks bitte an Simon flexmaster37@gmx.ch oder Bänz bendicht@chilloutparagliding.com


[i] https://www.blick.ch/news/einsatz-der-air-glaciers-im-lauterbrunnen-tal-gleitschirm-pilot-wird-spektakulaer-aus-felswand-gerettet-id16746197.html

[ii] https://www.justculture.ch/was-ist-just-culture

[iii] https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/gerechte-welt-glaube

[iv] Hausmann, C. (2016). Interventionen der Notfallpsychologie. Was kann man tun, wenn das Schlimmste passiert? Wien: Facultas.

Anleitung zum perfekten Unfall in der Flugschule

Ein paradoxer Ratgeber

Was ist ein paradoxer Ratgeber?

«Anleitung zum Unglücklichsein» titelt der Klassiker von Paul Watzlawick. Darin lernt die Leserschaft, wie man das Unglück im eigenen Leben erhöhen kann. Wer seine Beziehung ruinieren möchte, dem sei folgender Titel von Rainer und Claudia Sachse empfohlen: «Wie ruiniere ich meine Beziehung – aber endgültig». Und wer seinen narzisstischen Persönlichkeitsstil in den toxischen Bereich verschieben möchte, für den hält Rainer Sachse folgende Anleitung bereit: «Selbstverliebt – aber richtig. Paradoxe Ratschläge für das Leben mit Narzissten.»

Moralische Ratschläge sind zwar gut gemeint, aber ätzend:

  • «Man fliegt nicht bei Föhn!»
  • «Wolkenflug ist verboten!»

Die Wirkung von moralischen Ratschlägen bei aufregenden Freizeitaktivitäten ist gleich Null. Die psychologische Forschung deutet darauf hin, dass wir bei Aktivitäten, die starke positive Gefühle erzeugen, die Risiken unterschätzen und unsere Kontrollmöglichkeiten überschätzen (McCammon, 2004). Hinzu kommt, dass die Helden des Sports gelegentlich medienwirksam das Gegenteil vorleben und zur Belohnung in der Rangliste höher rücken. Da kann man sich Präventionskampagnen gleich ans Bein streichen.

Um die Stimmung nicht mit Moral zu trüben, bedient sich der paradoxe Ratgeber der Ironie und des schwarzen Humors. Es bleibt zu hoffen, dass die Leserschaft damit umgehen kann 😉

  • «Du möchtest auch endlich mal im Swissglider erwähnt werden? Gehe bei 10 hPa Südüberdruck in Meiringen fliegen. Halte per Helmkamera dein Erlebnis für die Nachwelt fest».
  • «Du bist der Meinung, dass Gleitschirmfliegen gesetzlich maximal eingeschränkt werden sollte? Wenn du in Interlaken Helikopter hörst, so fliege sofort in die Wolke und stets in Richtung der Geräuschquelle. Vollziehe die Kollision mit dem REGA-Helikopter wenn möglich über dem Kinderspielplatz der Höhenmatte.»

Startleiter Event zu Human Factors und Risiko

Am 29. Mai 2021 fand bei Chill Out ein Startleiter-Event zu Human Factors und Risiko statt. Ziel war es, einen paradoxen Ratgeber für Flugschulen zu verfassen: «Anleitung zum perfekten Unfall in der Flugschule». Dazu bedienten wir uns der Methode «Swiss Cheese Lotto», die am Ende des Artikels vorgestellt wird. Die Startleiter*innen arbeiteten in Kleingruppen und verfassten drei Geschichten.


YOFO

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Die Flugschule Yofo (you only fly once), die bei Bedarf im Sommer ab und zu geöffnet ist, geht unbekümmert an einen Startplatz, der total uneben und voller Löcher ist. In diesem Moment macht sich eine extrem risikofreudige Gruppe am oben genannten Starplatz bereit. Unter diesen Menschen befindet sich unser Macho-Flugschüler mit Bierranzen, der komplett beratungsresistent ist. Sein Helm und Notschirm liegen fachgerecht gelagert in seinem Regal zuhause.

Unterhalb des Startplatzes befindet sich eine perfekt geschlossene Nebeldecke. Der Fluglehrer, der komplett inkompetent ist, fragt die Schüler immer wieder, ob die Bedingungen noch fliegbar sind.

Die Startleiterin, die schon den ganzen Tag nur am rumnörgeln ist, bemerkt, dass eine Kaltfront im Anmarsch ist und drängt die Schüler zur Eile. Sie empfiehlt den Schülern, eine Steilspirale durch den Nebel zu machen, damit sie möglichst schnell zurück am Boden sind.

Unser Macho-Schüler spiralt nach einem so schlechten Start, wie er seit Anbeginn der Menschheit nicht gesehen wurde, durch die Nebeldecke. Er kommt dem Ende der Nebeldecke näher und sieht den Landeplatz auf sich zukommen. Er denkt sich: ich mache gleich noch eine Bodenspirale, um den bereits gelandeten Schülern zu zeigen, wie man landet. Was er aber übersehen hat: Der Landeplatz, an dem er noch nie vorher gelandet ist, ist übersät mit grossen Steinen.

Es kommt wie es kommen muss. Er schlingert zu nahe am Boden entlang und schlägt so unglücklich mit dem Schädel an einem Stein auf, dass er auf der Stelle tot am Boden liegt.

Dem SHV ist jegliche Unfallaufarbeitung zu mühsam, da sie bereits wissen, dass YOFO eine Hochrisiko-Schule ist.

Zuhause beim Macho-Schüler im Gestell liegt der perfekt gelagerte Helm, der noch zwei Jahre Garantie gehabt hätte.
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Autoren: Silas und Benj


Butterfly to Infinity

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Die Geschichte handelt von einer Flugschule in finanzieller Not. Da der SHV in der letzten Reform alle Schirme zu Schulungszwecken freigegeben hat, verkauft die Flugschule zwecks besserer Marge nur noch D-Schirme an Ihre Flugschüler. Vor kurzem hat der letzte Fluglehrer wegen ausstehender Lohnzahlung die Kündigung eingereicht. So hat die Geschäftsleitung kurzerhand entschieden, eine Fluglehrerlizenz zu fälschen.

Die ungünstige Situation macht sich auch unter den Startleitern bemerkbar. So war für den heutigen Schulungstag niemand bereit als Startleiter mitzuhelfen. In der Not wurde die Aufgabe auf einen brevetierten Gastpiloten aus dem Ausland übertragen, der nur über sehr wenig Deutschkenntnisse verfügte. So verstand der Startleiter auch die Anweisungen des Fluglehrers nicht, als dieser entschied, wegen dem aufziehenden Schneesturm den Schultag vorzeitig zu beenden. Obwohl die Flugschülerin die Anweisung sehr wohl verstanden hätte, wollte Sie unbedingt noch starten. Hatte Sie doch früher am Tag die Gruppe Akropiloten beobachtet und wollte beweisen, dass sie genauso gut fliegen kann.

Sie hat von diesen Piloten auch gehört, dass nur mit einem Leinenmesser geflogen werden sollte. Sie wusste zwar nicht warum, übte aber während des 5 Punkte-Checks fleissig mit ihrem Butterfly-Messer. Leider bemerkte sie nicht, dass dadurch ihr Tragegurt angeschnitten wurde. Die Gegebenheiten des kurzen Startplatzes mit einer steil abfallenden Klippe am Ende, wurden nun durch auffrischenden Abwind noch ungünstiger. Die Schülerin schaffte es trotzdem irgendwie, mit Ihrem Schirm abzuheben.

Da das Tal sehr eng war und die Windböen nun schon sehr stark wurden, dauerte es nicht lange, bis sie mitten über dem See im Tal flog. Die Schülerin bemerkte nicht, dass sie keine Möglichkeit mehr hatte, einen sicheren Landeplatz zu erreichen. Das einzige Ziel, das sie sich gesetzt hatte, war das Infinity Tumbling auszuprobieren.

Nach ein paar Versuchen begann sich der Schirm sehr schnell zu drehen. In dem Moment riss der angeschnittene Tragegurt. Der Schülerin blieb nichts anderes mehr übrig als den Notschirm zu werfen. Sobald sich der Notschirm entfaltet hatte, wurde sofort klar, dass sie mit einem viel zu kleinen Notschirm ausgestattet war.

Die Schülerin landete schlussendlich mit viel zu hoher Geschwindigkeit im See unten im Tal.
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Autor*innen: Alex, Jahn, Marc


Myst′AIR′ium Schnappizeller Wadenbeisser

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Wir begleiten die Flugschule MystAIRium. Diese hat eine relativ hohe Unfallquote. Dass der SHV lasche Ausbildungsvorgaben erlassen hat, kommt ihnen gerade recht.

Heute herrscht ein starker Südüberdruck. Andere Flugschulen in der Region haben heute keine Höhenflüge angesagt. Aber bei MystAIRium wird immer geflogen! Fluglehrer Brutus ist – freundlich ausgedrückt – ein eigenwilliger Kerl, der seine Schüller spüren lässt, was er von ihnen hält. Insbesondere auf den Schüler Päuli ist er gar nicht gut zu sprechen. Der ist ihm nämlich zu grossspurig und zu furchtlos. Um diesen endlich von seinem hohen Ross runter zu holen, packt Brutus heute dem Päuli mal einen C-Schirm in den Rucksack.

Unsere Gruppe wird vom Startleiter Freddy begleitet. Freddy ist zwar ein lieber Kerl, aber nicht gerade ein vorbildlicher Pilot. Fliegt er doch immer ohne Helm und ohne Handschuhe. Heute hat er gar Flipflops an und seine Tabakpfeife hängt sowieso immer in seinem rechten Mundwinkel.

Unsere Gruppe ist eine Horde junger, wilder Piloten, die sehr ambitioniert sind und sich gegenseitig zu Höchstleistungen anstacheln.

Schon bei der Fahrt zum Startplatz nehmen die Ausschmückungen ihrer bisherigen Flugerlebnisse galaktische Ausmasse an. Unser Pilot Päuli ist, wie schon angedeutet, ein besonderes Prachtexemplar der Gattung Para-Plagierer. Und weil er den galaktischen Paraplagier-Challenge heute gewonnen hat, macht er auch den Wind-Dummy.

Gerade als Päuli den Schirm aufzieht, kommt der giftige Schnappizeller Wadenbeisser vom Startplatzbauer wie ein Pfeil angeschossen und hängt im Nullkommanichts an Päulis Hosenbein. Startleiter Freddy will zu Hilfe eilen, doch mit seinen Flipflops rutscht er aus und fällt der Länge nach hin – er kann gerade noch seine Tabakpfeife vor dem Schlamm retten!

Päuli versucht derweil, in der Beschleunigungsphase den Schnappizeller vom Bein zu schütteln. Allerdings mit mässigem Erfolg, denn Plässi ist ein besonders verbissener Kerl. Im letzten Moment reisst Päulis Hosenbein und er gleitet mit nur wenigen Zentimetern Abstand über die ersten Baumwipfel hinweg. Zum Glück hat Fluglehrer Brutus dem Päuli heute einen C-Schirm untergejubelt, sonst hätte es vermutlich nicht über die Bäume gereicht!

Das Adrenalin rast noch durch Päulis Adern, als seine Gedanken schon zum Flugauftrag «Klapper» schweifen. In seiner Aufregung vergisst er allerdings, dass Fluglehrer Brutus beim Briefing eine Manöverbox definiert hat. Ausserdem will er nach diesem Startspektakel erst recht zeigen, was für ein ganzer Kerl er ist und macht sich – noch im Lee befindend – an das Manöver. Übermotiviert wie er ist, reisst er (statt der A-Leinen) mit viel Kraftaufwand und unter Beihilfe von Gewichtsverlagerung die kompletten (!) Tragegurte der rechten Seite herunter. Der Schirm klappt weg und dreht unverzüglich und sehr dynamisch ab.

Päuli wird immer mehr in den Sitz gedrückt und plötzlich dreht sich die ganze Welt nur noch um ihn. Im Hintergrund hört er noch den Fluglehrer Brutus eine Fanfare von Schimpf- und Fluchwörtern tröten, während er mit immer rasanterem Tempo dem Boden zu rast und irgendwann das Bewusstsein verliert.

Als er die Augen wieder öffnet, ist um ihn herum alles weiss. Päuli glaubt sich schon im Himmel zu wissen, als er Brutus flöten hört, was für ein unvergleichlicher Schwachkopf dieser Päuli doch sei! Jetzt erst realisiert Päuli, dass er nochmals Glück im Unglück hatte! Der viele Schnee, der letzte Nacht gefallen ist, hat seinen Aufprall abgefedert. Bis auf ein paar Blessuren und einem angeknacksten Ego, trägt Päuli keinen weiteren Schaden davon.
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Autor*innen: Team Heidi & Vättu

Die Methode: Swiss Cheese Lotto

Theorie: Das Swiss Cheese Model

Der englische Psychologe und Unfallforscher James Reason untersuchte Katastrophen in Industrie, Raumfahrt, Aviatik und Schiffahrt. Nebst der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl war auch die Explosion der Raumfähre Challenger Gegenstand seiner Forschung. Reason und sein Team kamen zum Schluss, dass die Unfälle nicht weniger werden, wenn man nur die «schlechten» Menschen ersetzt, welche den Fehler letzten Endes verursacht haben. Um die Sicherheit in einem System zu erhöhen, muss es als Ganzes betrachtet werden. Auf allen Ebenen einer Organisation können Sicherheitslücken bestehen.

Ein Zwischenfall ist stets eine unglückliche Verkettung vieler Faktoren. Auf zahlreiche Zwischenfälle ohne Folgen kommt in regelmässigen Abständen ein Unfall mit Folgen. Die Beinahe-Zwischenfälle weisen bereits auf Sicherheitslücken im System hin und bieten Gratislektionen – vorausgesetzt, die Organisation ist lernfähig. Schwere Unfälle künden sich meistens über viele kleine Beinahe-Zwischenfälle an.

In der Human-Factors-Forschung wird mit verschiedenen Modellen versucht, ein Ausschnitt an Wirklichkeit stark zu vereinfachen. Ein mögliches Modell ist das «Swiss Cheese Model» (Reason, 1990). Die Käsescheiben stellen Sicherheitsmassnahmen dar. Darin öffnen sich immer wieder Sicherheitslücken. Im Modell sind dies die Löcher im Käse. Es gibt aktive und latente Fehler.

  • Aktiver Fehler: Ein Pilot fliegt bei 35km/h Talwind ins Lee eines Gebäudes.
  • Latenter Fehler: LUV und LEE stehen nicht im Lehrplan der Flugschule, oder wurden vom Piloten nicht verstanden. Hier lauert Gefahr, sobald wir zum Piloten in der Luft 35 km/h Talwind und ein Gebäude hinzufügen.

Ständig wird von links im Bild auf die Käsescheiben geschossen. Meistens bleibt das Projektil in den vorderen Scheiben stecken: Der Zwischenfall hat keine Folgen; womöglich wird er gar nicht bemerkt. Je mehr Löcher die Scheiben enthalten, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine freie Schussbahn ergibt. Das Resultat eines solchen Durchschusses ist ein schwerer Unfall: Eine unglückliche Verkettung von vielen Faktoren auf mehreren Ebenen des Systems.

Der Perfekte Unfall in der Flugschule erfordert demzufolge, dass sich auf allen Käsescheiben viele Löcher öffnen. Genau diese Strategie verfolgt das «Swiss Cheese Lotto».

Übrigens:

Reason und sein Team empfehlen für die Erfassung von Beinahe-Zwischenfällen ein CIRS (Critical Incident Reporting System): Mittels anonymem Meldeportal können alle Beteiligten ihre Zwischenfälle und ihre Verbesserungsvorschläge mit geringem Aufwand melden. Durch die Anonymität bleibt ihr Gesicht gewahrt. Die Meldung bleibt straffrei. Der Vorteil der Anonymität: Es geht eine Unmenge an wertvollen Berichten ein und Sicherheitslücken im System können erkannt werden. Die Herausforderung: Führungspersonen und Mitarbeiter*innen mit hoher Kontrollüberzeugung (hat hier jemand «Kontrollillusion» gestänkert?) müssen sich mit ihren menschlichen Grenzen auseinandersetzen. Das braucht Mut und Neugierde – rettet jedoch über die Jahre hinweg einige Leben. In Aviatik, Industrie und Gesundheitswesen gehören CIRS unterdessen zur Unternehmenskultur hinzu. Es ist darauf hinzuweisen, dass in einigen Fällen erheblicher Druck seitens Gesetzgeber und Versicherungen nötig war.

Das Spiel: Swiss Cheese Lotto

Das System Flugschule wird in 12 Ebenen aufgeteilt. Vom Kopf des Fisches (BAZL, Verband, Flugschulleitung), bis hin zum Schwanz (Flugschüler*in und Flugauftrag).
Für diese 12 Ebenen werden von den Spieler*innen möglichst viele Sicherheitslücken gesucht und auf Karten geschrieben.

  • Verband (SHV) und BAZL
  • Flugschule (Leitung, Organisation, Führungsstil, Risikokultur, Werte und Normen)
  • Fluglehrer*in (Persönlichkeit, Risikokultur, Führungsstil, Erfahrung, Soft-Skills)
  • Startleiter*in (dito)
  • Gruppe
  • Meteo
  • Gelände: Startplatz
  • Gelände: Flugweg
  • Gelände: Landeplatz
  • Flugschüler*in (Persönlichkeit, Risikobereitschaft, Tagesform, Erfahrung, Wissen und Fähigkeiten)
  • Ausrüstung
  • Flugauftrag, Task

Jetzt kommt der Zufall ins Spiel. Im Anschluss werden die Karten gemischt und auf 12 Haufen verdeckt ausgelegt. Die Teams ziehen aus jedem Haufen ein «Käseloch» und schreiben mit dieser Kombination eine unterhaltsame Geschichte. Siehe oben.

Selbstverständlich würden für einen Unfall schon sechs Löcher im Käse genügen – doch wir wollen sicher gehen, dass es wirklich knallt und verdoppeln die Zahl. Denn Beinahe-Zwischenfälle kann ja schliesslich jeder! Für den perfekten Unfall in der Flugschule braucht es jedoch mehr als nur gelegentliche Sicherheitslücken. Es braucht die gemeinsame Anstrengung aller Beteiligten, die Augen und Ohren über die Jahre hinweg bestmöglich zu verschliessen.

Überblick Human Factors im Hängegleiten und in der Flugschule


Exkurs:
Warum heisst diese Rubrik «Risiko» statt «Sicherheit»?

Berg- und Flugsport leben vom Verlassen der sicheren Zone. Also bleibt die absolute Sicherheit auf dem Talboden zurück – und das ist gut so: Denn in einer potentiell risikoreichen Umgebung kann man seine Fähigkeit zur Kontrolle einer anspruchsvollen Situation erleben. Das schüttet im Hirn Glücksbotenstoffe aus. Was Spass macht, wiederholt man gerne. Entspricht die Schwierigkeit der Aufgabe den eigenen Fähigkeiten, kann sich zudem Flow-Erleben einstellen: Man vergisst sich selber und die Sorgen des Alltags. Man geht vollkommen auf im Hier und Jetzt. Meistens ist die Bühne des Geschehens eine wunderschöne Berglandschaft. Eine gute Gruppe ist dann noch das Sahnehäubchen.  Tönt nicht schlecht, oder?

Wer absolute Sicherheit vorzieht, der möge seine Hobbies in Richtung Minigolf oder Kaninchenzucht ausrichten. (Wobei man auf Golfbällen ausrutschen und ein Kaninchen Amok laufen kann).

Es ist übrigens völlig in Ordnung, wenn man sich in seiner Freizeit keinen Risiken aussetzen möchte. Dies ist ein gesundes und normales Bedürfnis. Gewisse Menschen ziehen aber einen Gewinn daraus, aufregende Umgebungen aufzusuchen. Es geht ihnen besser, wenn sie intensive Emotionen erleben. Etwas nüchtern ausgedrückt: Sie profitieren davon, ihre Angst kontrollieren zu können. Der Autor beobachtet dieses Persönlichkeitsprofil zu gewissen Graden an sich selbst. (Das Phänomen wird in der Persönlichkeitspsychologie mit dem Konstrukt  «Sensation Seeking» beschrieben.)

Einige Menschen haben einen faszinierenden Entdeckerdrang und die Fähigkeit, in fremde Lebensräume vorzustossen. Sie sind aber ohne Flügel geboren und von Natur aus nicht fürs Fliegen gemacht. Technische Hilfsmittel ermöglichen seit einem Jahrhundert den Traum vom Fliegen. Das «Fluggerät aus dem Rucksack» steht einer ganz kleinen Minderheit der Erdbevölkerung seit rund 40 Jahren zur Verfügung. Wenn wir grobe Fehler machen, so gewinnt die Erdanziehungskraft und beschleunigt uns in vier Sekunden freien Fall auf 140 km/h. Wer startet, setzt sich also automatisch gewissen Risiken aus (und will dies hoffentlich auch).

Mit dem eigenen Verhalten können diese Risiken in beide Richtungen beeinflusst werden. (In der Formel nach Munter ausgedrückt: Risiko = Verhältnisse / Verhalten).

  • Wer sich (z.B. für die Stabilisierung seines Selbstwertes) einer Situation mit hohen Risiken stellen möchte, wird im geländenahen Gleitschirmfliegen bei starkem turbulentem Wind gut bedient.
  • Ebenso können die Risiken mit angepasstem Verhalten klein gehalten werden, wenn jemand (z.B. als Ausgleich zum Alltag) eher an den ästhetischen Erfahrungen eines Sonnenuntergangsfluges mit Freunden interessiert ist.

Es gibt also viele gute Gründe, gewisse Risiken in der Freizeit auf sich zu nehmen: Im positiven Erlebnis Gleitschirmfliegen finden sich für gewisse Menschen wichtige Zutaten für die psychische Gesundheit.

«Le Vol Libre» – leider fällt mir kein treffendes deutsches Wort ein. Gleitschirmfliegen bedeutet Freiheit. Während der Alltag durch Pflichten und Vorschriften geregelt ist, findet sich im Gleitschirmfliegen eine kostbare Oase der Freiheit. Der Preis dafür ist jedoch die Selbstverantwortung. Niemand passt auf uns auf. Wir tragen zu 100% die Verantwortung für unsere Entscheide. Deshalb ist «Le Vol Libre» ein besonderer Sport, der besondere Anforderungen stellt. Während die Errungenschaften der Zivilisation die Bürger*innen vor den üblichen Gefahren des Lebens zu schützen versuchen, blieb im «Vol Libre» das Prinzip der natürlichen Auslese weitgehend erhalten: Wer sich dem Lebensraum nicht angepasst verhält und seine Fähigkeiten systematisch überschätzt, wird weniger Nachkommen zeugen. Dafür muss er sich nicht um die Altersvorsorge kümmern.

In Zahlen ausgedrückt: Auf 17’000 aktive Verbandsmitglieder in der Schweiz kommen jährlich im Schnitt 10 tote und 110 schwerverletzte Pilot*innen. Der Anteil im Flugschulbetrieb liegt im Schnitt bei 1 Todesfall und 7 Schwerverletzten. (SHV, 2020). Die Zahlen von Minigolf und Kaninchenzucht liegen dem Autor nicht vor.

Wenden wir uns noch einer weiteren Formel zu:

Risiko =
Eintrittswahrscheinlichkeit x Schadensausmass

Bild: Wikipedia, Doeni

Diese alternative Formel (nach Nohl) kann uns helfen, Risiken zu beurteilen.

Damit es bald mal richtig knallt, sollen beide Faktoren hoch gehalten werden. Angenommen, jemand möchte das Risiko für eine gefährliche Kollision mit einem Hindernis in der Startphase maximieren, so beraten wir ihn im Sinne des paradoxen Ratgebers wie folgt:

  • Eintrittswahrscheinlichkeit erhöhen (= es passiert oft):
    • Startplatz mit möglichst vielen Hindernissen
    • Schwierige Windverhältnisse
    • Hohes Stressniveau
    • Augen beim Abflug schliessen
    • Hektisch, grobmotorisch oder gar nicht steuern
    • Nie zum Groundhandling gehen
    • Blick auf das Hindernis fixieren
    • Überspringen der Kontrollphase
    • Ausblenden der Option «Startabbruch»
  • Schadensausmass erhöhen (= wenn es passiert, tut es so richtig weh):
    • Nur harte und kantige Hindernisse anfliegen (Haus, Fels, Baumstamm)
    • Punkt 10 m ab Boden anfliegen, damit nach dem Aufprall noch ein Absturz erfolgt
    • Ungebremst anfliegen
    • Rückenwindphasen nutzen
    • Kopf voran
    • Beine spreizen

Lohnendes Risiko

Risiko im Gleitschirmfliegen kann mit reflektiertem Verhalten in einen «lohnenden» Bereich verschoben werden: Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmass liegen in einem tiefen und akzeptablen Bereich. Das Restrisiko wird jedoch nie Null werden («Gravity never sleeps»). Für das Erleben der positiven Emotionen und der Flow-Zustände ist man bereit, sich diesem Restrisiko auszusetzen.

Es bleibt zu wünschen, dass diese Risiken bewusst gewählt werden und dass sich Novizen ernsthaft mit den anspruchsvollen Rahmenbedingungen des «Vol Libre» auseinandersetzen.

Das Restrisiko kann gegen das Glück und die Lebenszufriedenheit abgewogen werden, die aus dem «Vol Libre» resultieren. Das Restrisiko kann auch mit den Risiken des Alltags verglichen werden, wenn wir auf dem Boden bleiben: Von Grübeleien im stillen Kämmerlein, über Unfälle in Strassenverkehr, Haus & Garten bis hin zum amoklaufenden Kaninchen der Zuchtkategorie «Schwergewicht».


Bänz Erb, Juli 2021

Feedbacks und Erfahrungen bitte an bendicht@chilloutparagliding.com >


Weiterführende Literatur

  • BASPO Bundesamt für Sport (Hrsg.) (2019). Faktor Mensch. Sicher unterwegs sein. Magglingen: BASPO. PDF >
  • BRANDL, Peter. (2018). Crash Kommunikation. Warum Piloten versagen und Manager Fehler machen. 5. Auflage. Offenbach: GABAL.
  • IRSCHIK, Klaus (2011). Gleitschirmfliegen. Sicherheit und Unfallvermeidung. Stuttgart: Motorbuch.
  • RUOSS, Manfred. (2017). Zwischen Flow und Narzissmus. Die Psychologie des Bergsteigens. 2. Aufl. Bern: Hogrefe.
  • BLAWAT, Katrin. (2007). Risiko statt Sicherheit. Der Mensch sucht die Gefahr. In: Spiegel Wissenschaft.
    Zum Artikel >

Fachliteratur:

  • BADKE-SCHAUB, Petra & HOFINGER, Gesine & LAUCHE, Kristina (Hrsg.). (2012). Human Factors. Psychologie sicheren Handelns in Risikobranchen. 2. Auflage. Berlin, Heidelberg: Springer.
  • MCCAMMON, Ian. (2004). Sex drugs and the white death: Lessons for avalanche educators from health and safety campaigns. Presented at the International Snow Science Workshop, 2004, Jackson, WY.
  • RAUE, Martina & LERMER, Eva & STREICHER, Bernhard (Hrsg.). (2018). Psychological Perspectives on Risk and Risk Analysis. Theory, Models, and Applications. Cham: Springer
  • REASON, James. (2008). The human contribution. Unsafe acts, accidents an heroic recoveries. Farnham: Ashgate.
  • ST.PIERRE, Michael & HOFINGER, Gesine. (2020). Human Factors und Patientensicherheit in der Akutmedizin. 4. Auflage. Springer, Berlin, Heidelberg.

Ein Hike&Fly Märchen mit 3 Enden

Fiasko oder Flow? Du stellst die Weichen.

Es waren einmal zwei Hike&Fly Freunde…

Wir nennen sie Anna und Beat. Anna fliegt seit 4 Jahren Gleitschirm, macht am liebsten Hike&Fly’s an neue Startplätze und hält sich mit Bergläufen fit. Die Arbeit hat sie aufs Minimum zurückgeschraubt und kann unter der Woche mal einen guten Flugtag ausnutzen. Neue Herausforderungen machen ihr Spass. Beat fliegt seit 2 Jahren, kommt aber nur unregelmässig in die Luft, weil er im Job viel unterwegs ist. Harmonie in der Gruppe ist ihm wichtig, damit er sich entspannen kann. Ein paar Stunden Groundhandling würden ihm nicht schaden, hat sein Fluglehrer neulich zu ihm gesagt.

Die beiden haben am Vortag sorgfältig ein Hike&Fly auf die Hasenegg geplant. Beat ist sportlich nicht auf der Höhe und möchte deshalb nur 700 m Aufstieg und einen einfachen Startplatz. Anna will mehr Challenge und erhofft sich einen Thermikflug mit Toplande-Training. Die Hasenegg bietet beides. Somit stimmt der Plan für Anna und Beat.

Das Treffen

Nach einer Stunde Aufstieg bei angenehmem Tempo legen sie in einer Wegkehre eine Pause ein. Die Aussicht auf die verschneiten Viertausender ist prächtig. Eine schwarze Dohle landet und schüttelt kurz die Flügel, bevor sie wieder abhebt und hinter den Felsen verschwindet. Mit zügigen Schritten und den Klacken von Trekkingstöcken erscheinen die Vielflieger Christoph und Daniel:

«Kommt doch mit uns aufs Kranzbödeli! Nur 1’300 m Aufstieg. Der Klippenstart geht bei etwas Aufwind problemlos».

Crash

Welch eine Ehre, dass die beiden Talentierten sie mitnehmen wollen! Ohne zu zögern sagt Anna zu. Am meisten lernt man schliesslich von den Cracks. Beat schluckt leer und wagt sich nicht, Spielverderber zu sein. Er schweigt. Sein Bauchgefühl ist schlecht, doch im Job kann er bei neuen Verhandlungen auch keine Unsicherheit zeigen.

Christoph, Daniel und Anna ziehen zügig los und unterhalten sich über das bevorstehende Hike&Fly-Rennen namens Breithorn-Challenge.

Völlig erschöpft und 15 Minuten hinter der Gruppe erreicht Beat das Kranzbödeli. Nun überkommt ihn auch die Angst vor dem Klippenstart. Der Wind ist wechselhaft. Es gibt stabile Phasen, in denen ein Start Richtung Klippe auch für ihn machbar sein sollte. Die drei anderen sind bereits startklar und weisen auf das veränderte Wolkenbild hin. Es könne bald Überentwicklungen geben und wir wollen sicher nicht zu Fuss runter – Jetzt, da wir schon so lange hochgestiegen sind. Anna fragt Beat, ob er vor ihr starten möchte. «Geht nur, ich trinke noch was und komme dann gleich nach». Wenig später sind die drei Schnellen alle über die Klippe gestartet und drehen in der Thermik um die Wette.

Erschöpft, unterzuckert und durch das Wetter verunsichert macht Beat seine Startvorbereitungen flüchtig. Im wechselhaften Wind bricht er zwei Starts ab. Was denken bloss die anderen über ihn? Dann halt vorwärts starten und zügig losrennen. Beim dritten Anlauf murkst er den Schirm ohne Kontrollblick in die Luft und rennt über die Abbruchlinie hinaus ins Freie.

Sein Schirm zieht nach rechts. Beat blickt nach rechts und sieht die Felswand. Dann blickt er zum Schirm und sieht einen ordentlichen Verhänger auf der rechten Seite. «Scheisse, ich will nicht in die Felsen fliegen!». Er gibt im Stress so viel Gegenbremse, dass die Strömung auf der linken Seite abreisst. Nach etwas Trudeln kollidiert Beat mit dem steilen Gelände, rollt weiter und stürzt in einem schauerlichen Pack aus Pilot, Leinen und Gleitschirm in den Abgrund.

Als der REGA-Arzt endlich die Absturzstelle erreicht, kann er leider nichts mehr für Beat tun.

–––––
Oh nein, das ist aber ein schlimmes Ende. So endet kein Märchen! Das kann man nicht als Gutenacht-Geschichte zumuten. Versuchen wir es nochmals:

Cumulonimbus und Alpenrose

…Eine schwarze Dohle landet und schüttelt kurz die Flügel, bevor sie wieder abhebt. «Kommt doch mit uns aufs Kranzbödeli! Nur 1’300 m Aufstieg. Der Klippenstart geht bei etwas Aufwind problemlos».

Beat hört auf sein Bauchgefühl und traut sich zu sagen, dass ihn das Kranzbödeli womöglich überfordere und er lieber zur Hasenegg gehe. Er könne aber auch alleine weiter und wolle Anna nicht die Challenge verderben.

Somit trennen sich ihre Wege. Die Klack-Klack der 6 Trekkingstöcke entfernen sich rasch und auch der Alarm von Christophs Pulsmesser verstummt, da er sich wieder im gewünschten Trainingsbereich befindet. Beat steigt in gemütlichem Tempo weiter auf Richtung Hasenegg und beobachtet die Natur. Er ist enttäuscht, weil er den Tag gerne mit Anna verbracht hätte. Eigentlich hatten sie einen sorgfältigen Plan, der für beide gestimmt hätte.

Auf der Hasenegg angekommen legt sich Beat ins Gras des perfekten Startplatzes, beobachtet die Quellwolken und döst ein. Nach einer intensiven Arbeitswoche mit zwei Interkontinentalflügen holt sich sein Körper den nötigen Schlaf.

Anna, Christoph und Daniel sind auf dem Kranzbödeli angekommen und wollen das kurze Flugfenster vor den Überentwicklungen auszunutzen. Dank grossflächiger Thermik wollen sie möglichst weit das Tal hinauszufliegen. Richtung Interlaken sieht der Himmel besser aus. Also nichts wie los, auch wenn die Basis über dem Startplatz schon tief hängt und dunkel ist. So muss man nicht ewig in der Thermik drehen, sondern kann geradeaus fliegen. Wer in der Thermik dreht, fliegt schliesslich die halbe Zeit in die falsche Richtung, hat mal der A. von A. gesagt! Die drei drehen in der Thermik um die Wette und wollen vor der Talquerung möglichst viel Höhe machen. Mit der 45°-Regel nehmen sie es nicht so genau.

Es entfällt ihrer Aufmerksamkeit, dass in der Nähe eine erste Zelle ausregnet. Wie eine Flutwelle breitet sich die kalte Luft am Talboden entlang aus und verstärkt das Steigen unter den benachbarten Wolken – auch unter der Wolke über dem Kranzbödeli. Sie erreicht das Stadium Cumulonimbus und saugt die drei talentierten Vielflieger gnadenlos ein. Sie verlieren sofort die Orientierung. Trotz allerhand Abstiegsmanöver schreien die Varios wie verrückt im Aufwind von 25 m/s. Dummerweise hatte ein polnisch-deutsche Wettkampfpilotin im Jahr 2007 schon alles Glück dieses Jahrhunderts betreffend Gewitterwolkenflug aufgebraucht und somit ereilt Anna, Christoph und Daniel trotz Märchen das zu erwartende Schicksal bei einem rasanten Steigflug auf über 10’000 m ü. M., wo minus 50°C herrschen und die Luft zu dünn zum Atmen ist.

Irgendwann fällt auch diese imposante Gewitterwolke zusammen und spuckt drei vereiste und leblose Piloten aus.

Ein Donnergrollen weckt Beat aus seiner Siesta. Es beginnt jeden Moment zu Regnen. Oder sind das da hinten schon Hagelkörner? Nichts wie weg von dieser exponierten Stelle auf der Hasenegg! Beat nimmt den Wanderweg Richtung Tal unter die Füsse und erreicht im ersten Platzregen die Alp Oberberg. Aus einem der Schornsteine steigt Rauch auf. Beat mag diesen Geruch in der Nase.

Durchnässt sucht er Schutz unter dem Vordach dieser kleinen Alphütte und trifft spontan auf eine junge Frau, die gerade Wasser für einen Blumenstrauss holt. Sie heisst Heidi, streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht, lächelt verlegen und bietet Beat an, ins Trockene zu kommen und sich am Feuer aufzuwärmen …

–––––
Immerhin schon mal Happy End für Beat. Doch die Opferzahlen haben sich in dieser Version verdreifacht. Wir können das so nicht stehen lassen. In diesem Märchen fehlen die Bösen und somit muss auch niemand auf der Strecke bleiben. Das Teufelchen tritt aber versteckt in Erscheinung: Es lässt  unsere Piloten in der Gruppe Dinge tun, die sie alleine anders gemacht hätten.

Also versuchen wir im dritten Anlauf, dieses unsichtbare Teufelchen aus dem Märchen rauszuhalten. 

Beats Wecker geht nicht

Beat erscheint nicht am Treffpukt. Anna muss ihn aus dem Tiefschlaf klingeln. Sie starten verspätet und bemerken beim Abmarsch hinten im Tal, dass die Quellwolken schon bedrohliche Ausmasse angenommen haben. Nach einer halben Stunde Aufstieg entschliessen sich Anna und Beat, das Hike&Fly abzubrechen. Das Wetterradar zeigt im Westen schon erste Gewitterzellen. Wieder beim Auto äussert Beat die Idee, an den See zu fahren, kurz zu baden und dann in die Pizzeria zu gehen. Der nächste gute Flugtag komme bestimmt.

Kurz nach Einfahrt in die Stadt bleiben sie im Stau stecken. Ein Van aus Appenzell Innerrhoden blieb auf dem Bahnübergang stehen und wurde vom ICE 278 Interlaken–Berlin gerammt. Wieso mussten wir nur durch die Stadt fahren, fragt sich Anna?

Beat auf dem Beifahrersitz bemerkt das Schaufenster von Chill Out Paragliding und sieht auf dem Werbeplakat «Hike&Fly Know-How – Alles, was du für erfolgreiche Touren abseits des Rummels wissen musst ». Der Verkehr steht seit 5 Minuten. Anna und Beat gucken sich die Website auf ihrem Smartphone an, während im Radio rassige Musik erklingt:

  • Wer lernen möchte, eigene Touren an Orte abseits offizieller Startplätze zu planen, besucht den Theorie-Workshop einmal und geht auf eine Know-How Tour. Da kriegt man zu Beginn ein Fallbeispiel, wie das Märchen von Anna und Beat, dem man ein Happy End verpassen darf. Unterwegs gibt es 6 Inputs zu verschiedenen Themen. Nächste Termine: 21./22./23. Juni 2019.
  • Wer «nur» an einer geführten Tour ohne Inputs interessiert ist, besucht eine Guiding-Tour. Diese beginnt mit einem sorgfältigen Preflight Check und bietet reichlich Gelegenheit, sich auszutauschen. Nächste Termine: 20./21. Juli 2019.
  • Die Touren gibt es auf zwei Niveaus: Dohle und Adler. Wer mehr als 700 Höhenmeter machen möchte, geht zu den Adlern.
  • Auch selbständige Flugschüler/innen ab 40 Flügen und bestandener Theorieprüfung sind willkommen.
  • Wer sich das Wissen fürs effektive Ausdauertraining aneignen möchte, besucht das Training-Know-How mit Profitrainer Benu Senn. Nächster Termin: 21. September 2019

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Oh, Entschuldigung, jetzt sind wir in die Schleichwerbung abgedriftet. (Der Stau war schuld.)

Zurück an die Hasenegg! Wir schulden den 4 Piloten ein Happy End.

Flow

…Eine schwarze Dohle landet und schüttelt kurz die Flügel, bevor sie wieder abhebt und hinter den Felsen verschwindet. «Kommt doch mit uns aufs Kranzbödeli! Nur 1’300 m Aufstieg. Der Klippenstart geht bei etwas Aufwind problemlos».

Anna hört ihre innere Hike&Fly-Athletin schon jubeln, sieht aber, dass Beat grosse Augen macht und die Lippen zusammenpresst. «Ich weiss nicht, Jungs.  Lasst uns das zuerst unter vier Augen besprechen», sagt Anna zu Christoph und Daniel. Die beiden Cracks gehen ein paar Schritte weiter, checken die Meteo-Apps und machen Balance-Übungen für ihre Koordination. Beat steht zu seinem Wunsch, die Tour wie geplant zu machen, erkennt aber auch Annas Bedürfnis, mit Leuten auf höherem Leistungsniveau unterwegs zu sein. Beide wollen schliesslich ihr freies Wochenende gut nutzen und etwas erleben.

Es folgt eine Denkpause …

Man soll auch wieder als Freunde vom Berg runter, sagt Anna. Sie schlägt den Cracks vor, in ihrem Tempo weiter auf’s Kranzbödeli zu gehen und dann auf eine Hanglandung bei der Hasenegg vorbeizuschauen. Beat schlägt vor, dass er beim Parkplatz lande und das Auto zurück nach Interlaken bringe. Anna könne mit den Cracks auf Strecke gehen. Sie treffen sich später noch alle auf ein Bier.

Das passt. Jeder hat nun eine Aufgabe, die seinem Niveau und seinen Erwartungen entspricht. Und trotzdem können sie zusammen bleiben oder sich später wieder treffen. Win-Win.

Während Beat auch die letzten Höhenmeter in seinem Tempo macht, legt Anna ein paar schnelle Intervalle ein. Das hat in kurzer Zeit eine ähnliche Wirkung wie der lange Aufstieg aufs Kranzbödeli. Sie machen Pause, Trinken und Essen, beobachten die thermischen Ablösungen am Startplatz und legen dann die Schirme aus. Schon bald nähern sich Christoph und Daniel aus der Luft und Üben sich im Hanglanden. Beat sieht beim Kontrollblick einen Verhänger und bricht den Start ab. Anna hilft ihm beim erneuten Auslegen und sagt, dass ihr dies auch zwischendurch passiere. Sobald Beat in der Luft ist, starten auch die drei anderen zu ihrem Streckenflug auf.

Beat fühlt sich wohl und fliegt ganze 1.5 h in der Thermik rund um die Hasenegg. Dies ist länger, als er jemals geflogen ist. Er wagt sogar die Talquerung zum Wirmschbühl. Dann gleitet er genussvoll ins Tal, und schwatzt am Landeplatz mit anderen Piloten. Er schreibt den drei anderen eine Nachricht:

«Fahre zum See, nahe des Landeplatzes. Kaufe kühles Bier und Essen. Kommt einfach, wenn ihr genug geflogen seid. Keine Eile.»

Anna hat Spass, mit den beiden Cracks auf Strecke gehen zu dürfen. Zu dritt ist das Auffinden der Thermik einfacher. Zudem kann sie die Linienwahl der beiden studieren, insbesondere die Schlüsselstelle über die Blynige Platte hat sie noch nie so elegant lösen können. Da ist sie oft im Lee des Talwindes abgesoffen. Wenns mal ordentlich böllert in der Thermik, hat Anna mehr Durchhaltewille, weil sie bei Christoph und Daniel von aussen sieht, dass es nur halb so wild ausschaut. Sie bemerken das bedrohliche Wolkenbild in den Bergen, doch zu diesem Zeitpunkt sind sie schon viele Kilometer Richtung Voralpen entfernt. In einer ruhigen Gleitphase checkt Anna das Wetterradar und beschliesst, mal Richtung Landeplatz am See auszugleiten. Denn der Outflow einer Gewitterzelle kann sich im Tal viele Kilometer weit ausbreiten und für Rodeo über dem Landeplatz sorgen. Christoph und Daniel vergleichen noch ihre Gleitzahlen im Vollgas und landen ein paar Minuten nach Anna auch beim See.

Beat steigt gerade aus dem See und lobt die milde Temperatur. Die Gewitter bleiben in den hohen Bergen hinten und fallen bald in sich zusammen. Dennoch macht sich in Interlaken etwas Outflow bemerkbar. Die verbleibenden Gleitschirme über dem Landeplatz müssen ein wenig Rodeo fliegen, kommen aber alle gut zu Boden. Christoph und Daniel verteilen Stilnoten. Mit einem kühlen Bier in der Hand ist dies ein unterhaltsames Schauspiel.

Beat stellt der Gruppe eine junge Frau vor, die er beim Einkaufen vorhin kennen gelernt hat und die auch unterwegs zu einem Bad im See war. Sie heisst Heidi und kam heute kurz in die Stadt, um Einkäufe für ihre Alphütte zu machen.

…und wenn sie noch nicht gestorben sind, dann fliegen sie noch heute.

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So gefällt mir das Märchen. Jetzt kann ich gut einschlafen.

Noch ein Wort zum Teufelchen

Es kann schwierig sein, mich einer Gruppendynamik zu entziehen. Denn dies hat mit der Art zu tun, wie sich unsere Psyche in tausenden von Jahren organisiert hat. Experimente (1) haben gezeigt, dass im menschlichen Hirn das Belohnungszentrum aktiv wird, wenn wir einer Gruppe zustimmen. Dies unabhängig davon, wie gut der Entscheid der Gruppe ist. Wenn wir gegen die Gruppe stimmen, wird das Zentrum für sehr starke Emotionen aktiv, auch Gefahrenzentrum genannt (Amygdala). Zustimmung zur Gruppe fühlt sich angenehm an, Opposition kann Ängste wecken. 

Offene Kommunikation in der Gruppe kann hier die Weichen anders stellen. Doch dies erfordert einiges an Mut. Es braucht nicht nur «Balls» in ruppiger Thermik über schroffem Gelände, es braucht ebenso «Balls» bei der Kommunikation im übermütigen Rudel. Es macht Spass, in der Gruppe unterwegs zu sein und gibt auch mir ein geborgenes Gefühl. Bei Sportarten rund um den Berg schleicht sich jedoch des Öfteren das kleine Teufelchen ins Gepäck, sobald man in der Gruppe unterwegs ist. Noch schöner: Wenn zwei Gruppen sich ein inoffizielles Rennen liefern.

Einmal drin in der Situation ist es schwierig, das Problem zu erkennen. Die Wahrnehmung ist verzerrt. Möglich hingegen ist es, rückblickend die Situationen zu erkennen, in denen ich schlechte Entscheide treffe. Wie muss mein Märchen geschaffen sein, damit es Opfer gibt? Wo werden sie Weichen auf Problem gestellt?

Irgendwann gelingt es mir, diese teuflischen Situationen an Ort und Stelle zu erkennen.

  • Ich lege eine Verschnaufpause ein.
  • Ich werfe mein eigenes Denken wieder an (Ja, ist anstrengend, ich weiss.)
  • Ich nehme die Stellhebel der Weichen in die Hand. Es gibt immer mehrere Optionen. Plan A, Plan B, Plan C.

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(1) Donelson R. Forsyth: Group Dynamics, 2019, S. 215

PS: Namen und Ereignisse in diesem Märchen sind frei erfunden. Parallelen zu realen Zwischenfällen wären zufällig.

Bänz Erb, Mai 2019


Welch eine Überraschung für den Autor. Ein Freund lässt sich durch das Märchen inspirieren und schreibt ein weiteres Ende:

Gedankenkreisen

von Jan Stahl, Juli 2019

Welch eine Ehre, dass die beiden Talentierten sie mitnehmen wollen! Ohne zu zögern sagt Anna zu. Am meisten lernt man schliesslich von den Cracks. Beat schluckt leer und wagt sich nicht, Spielverderber zu sein. Er schweigt. Sein Bauchgefühl ist schlecht, doch im Job kann er bei neuen Verhandlungen auch keine Unsicherheit zeigen. Dennoch sagt er zu mitzugehen aber behält es sich innerlich vor wieder herunterzulaufen, wenn er es sich nicht zutraut.

Christoph, Daniel und Anna ziehen zügig los und unterhalten sich über das bevorstehende Hike&Fly-Rennen namens Breithorn-Challenge.

Während dem Aufstieg gehen Beat viele einzelne Dinge durch den Kopf und er ist hin und hergerissen – er ringt mit sich selber, einerseits will er gegenüber den anderen nicht zeigen will, dass er eigentlich Angst hat aber auch gegenüber seiner Freundin möchte er nicht schwach oder als Spielverderber dastehen. Darüber reden getraut er sich nicht da seine Freundin ja schon weit vorab in einer anderen Welt mit den Cracks diskutiert und er sich hier fehl am Platze fühlt.

Völlig erschöpft und 15 Minuten hinter der Gruppe erreicht Beat das Kranzbödeli. Nun überkommt ihn auch die Angst vor dem Klippenstart. Der Wind ist wechselhaft. Es gibt stabile Phasen, in denen ein Start Richtung Klippe auch für ihn machbar sein sollte. Die drei anderen sind bereits startklar und weisen auf das veränderte Wolkenbild hin. Es könne bald Überentwicklungen geben und wir wollen sicher nicht zu Fuss runter – Jetzt, da wir schon so lange hochgestiegen sind. Anna fragt Beat, ob er vor ihr starten möchte. «Geht nur, ich trinke noch was und komme dann gleich nach». Wenig später sind die drei Schnellen alle über die Klippe gestartet und drehen in der Thermik um die Wette.

Beat ist körperlich und mental erschöpft. Er ist aber auch froh einen Moment für sich zu haben. Beat nimmt sich nach diesem Stress bewusst 5 Minuten Pause, atmet durch und isst etwas. Während dieser Zeit kommt er ein wenig zur Ruhe und kann die Situation noch einmal abschätzen.

Er beginnt mit seinen Startvorbereitungen. Dabei bemerkt er, dass er zittrig ist und sein Bauchgefühl rät ihm nicht zu starten. Beat setzt sich noch einmal hin, atmet durch schliesst kurz die Augen und prüft sein Bauchgefühl. Innerlich trägt Beat einen Kampf mit sich selber aus.

Beat spürt aber immer klarer, dass er den Flug mit dieser Ausgangslage nicht geniessen kann und entschliesst sich zusammenzupacken und wieder zu Fuss hinunter zu laufen.
Beim Abstieg geht das Gefühlchaos bei Beat erst recht los, einerseits ist er stolz auf sich, dass er eine Entscheidung getroffen hat – andererseits aber auch enttäuscht auf sich selber, dass er nicht gewagt hat zu fliegen. Es stäubt ihn dies zuzugeben – zuzugeben vor sich selber und danach so den anderen unter die Augen zu treten. Was denken die anderen beiden von ihm, halten die ihn für einen Schwächling und was denkt seine Freundin von ihm? Generell verflucht er das Fliegen, die Berge, das Wetter und generell ist alles Blöd.

Der einsame Abstieg ist zunächst eine enorme Qual in diesem Gefühlschaos aber langsam hilft ihm die Anstrengung auch sich auf etwas Anderes zu konzentrieren und er kann sogar einmal einem kleinen fetten Murmeltier zuschauen welches vor ihm in ein Loch zu flüchten versucht.

Da Gewitter hat nicht lange auf sich warten lassen und Beat findet Unterschlupf in einer einsamen Hütte……

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Der Preflight Check

Risikokompetenz für Rookies

Deutsch: Preflight Check V2 DE (PDF) >

Englisch: Preflight Check V2 EN (PDF) >

«Man muß die Dinge so einfach wie möglich machen. Aber nicht einfacher.»
Albert Einstein

Die Entwicklung eines Tools fürs Risikomanagement im Gleitschirmfliegen ist ein ewiges Ringen zwischen den Polen «zu einfach» und «zu kompliziert». Je einfacher die Methode ist, desto eher wird sie angewendet. Es könnten aber zu viele Faktoren der komplexen Materie Meteorologie ausgeblendet und das Netz viel zu grobmaschig werden. Je genauer und somit komplexer die Methode hingegen ist, desto weniger kann sie innert nützlicher Frist angewendet werden – schon gar nicht vom Rookie.

Müsste ich heute das Risikomanagement beim Gleitschirmfliegen in einem Satz formulieren, würde ich sagen:

«Pilot/in, meide Turbulenz in Bodennähe!»

In diesem Satz stecken die 3 wichtigsten Zutaten drin:

  • Ein Mensch, der Entscheidungen fällt
  • ein bestimmter Ort im Gelände
  • eine erhöhte Windgeschwindigkeit

Ich möchte noch nachschieben «Pilot/in, habe Spass!». Positive Flugerlebnisse zeigen, dass ich im anregenden Bereich zwischen Über- und Unterforderung unterwegs bin (Flow-Channel). Daraus ziehe ich die Motivation für den nächsten Flug oder ein ganzes Fliegerleben. Als Fluglehrer darf ich mich übrigens auch nach jedem Schulungstag fragen, ob es mir und den Piloten Spass gemacht hat? Erfahrungswert für mich als Fluglehrer: Wenn sich der Tag etwas langweilig anfühlt, sind wir im grünen Bereich und der schwächste Teilnehmer ist noch nicht überfordert.

Turbulenz ist unsichtbar

Das Heimtückische an der Geschichte ist, dass Turbulenzen meistens unsichtbar sind! Nur selten zeigen Wolken mit ihrem verwirbelten Bild die Turbulenzen an – schon gar nicht in Bodennähe. Ich habe es also beim Gleitschirmfliegen mit einer Aktivität in einer potentiell wilden Umgebung zu tun: Die meisten Risiken bleiben unsichtbar. Das tönt nun vielleicht bedrohlich und wenig spassig? Aber ich kann diese Situation auch als Herausforderung annehmen: Eine Einladung von Mutter Natur zur Schärfung meiner Sinne.

Wilde Umgebung schärft die Sinne

Gleitschirmfliegen ist wohl eine der wenigen verbleibenden «wilden» Umgebungen, in denen ich zu 100% selbst verantwortlich für meine Entscheide bin. Ähnlich dem Bergsteigen oder weiteren Sportarten, die mit der Kraft der Elemente arbeiten. Niemand leitet mich. Keine Blitzkästen am Strassenrand, keine Warnschilder und auch keine Leitplanken. Das Freiheitsgefühl ist einzigartig. Der Preis dafür sind jedoch – verglichen mit einfacheren Sportarten am Boden – deutlich erhöhte Anforderungen an mich als Piloten.

Wenige Flugtage sind total unfliegbar oder total harmlos. Meistens entwickelt sich der Tag irgendwo zwischen diesen Polen. Viele Faktoren sind passend, doch stets ist da etwas Störendes, das Unsicherheiten beim wenig erfahrenen Piloten hinterlässt. Vielleicht stehen trotz blauem Himmel Begriffe wie «Gewittertendenz», «mässige Talwinde» oder «leicht föhnig» im Raum. Um den Spass am Fliegen zu behalten, gibt es nun 2 Möglichkeiten:

  • Ich ignoriere die Risiken, was mir durch deren Unsichtbarkeit prima gelingt
  • Ich werde ein bewusster Pilot, der die Risiken erkennt und mit angepasstem Verhalten reduziert

Der Preflight Check richtet sich an Rookies, die den bewussten Weg einschlagen möchten

Als ich vor 9 Jahren das geschützte Nest der Flugschule verliess, sah ich mich plötzlich mit einigen Unsicherheiten konfrontiert. Auch die Wirkung der Wunderpille «überhöhtes Selbstvertrauen» flachte stossweise ab. Aus dem anfänglich spassigen Freizeitsport wurde eine fordernde Aufgabe, die sich kaum mit einem Flugtag pro Monat meistern lässt (ein Flugtag pro Woche kommt der Sache schon näher). Ich bin jedoch überzeugt davon, dass dieses Rookie-Stadium mit der nötigen Hingabe innert weniger Jahre hinter sich gelassen werden kann. Ich bewahre mir trotzdem ein Krümelchen des Rookies: Eine Mischung aus Offenheit, Staunen und Respekt. Die Lektionen von Mutter Natur sind grossartig und ungepolstert.

Chancen & Strategien | Risiken & Reduktionsmassnahmen

Ein Flugtag bietet Chancen, die ich mit angepasstem Verhalten nutzen kann: Für den Thermikflug, die Soaring-Session oder den ruhigen Sonnenuntergangsflug muss ich zur passenden Zeit am entsprechenden Ort sein und dort das Richtige tun. Das selbe Vorgehen bewährt sich auch im Umgang mit den Risiken: Ich mache diese zuerst sichtbar und reduziere sie dann mit angepasstem Verhalten auf ein akzeptables Mass. Man stelle sich eine Balkenwaage vor. Auf der einen Seite staple ich die sichtbar gemachten Risiken auf. Auf der anderen Seite gleiche ich mit angepasstem Verhalten aus.

Ich weiss also zum Beispiel, dass der kräftige Talwind im Fluggebiet an diesem Sommertag vom Höhenwind verstärkt wird. Es drohen am Nachmittag Windstärken von 40 km/h+ im Bodenwindfeld.  Zur Reduktion des Risikos kann ich als Rookie:

  • grosse und lange Alpentäler im Sommer am Nachmittag meiden
  • am Vormittag fliegen, zeitig landen, Siesta am See machen und eventuell am Abend nochmals fliegen
  • die Windwerte an den Stationen überwachen
  • Leegebiete und Düsen des Talwindes meiden
  • den grösstmöglichen und frei angeströmten Landeplatz anfliegen und mit 101% Konzentration und aktivem Flugstil durch den Bodenwindgradienten gelangen
  • Wenn ich den starken Talwind erst in der Luft bemerke, kann ich einem Prallhang aufsoaren und an einer erhöhten Lage im LUV einladen oder hoch oben in der Luft abwarten

Risiken kann ich nicht gänzlich vermeiden, aber erkennen und durch angepasstes Verhalten minimieren. Bleibt die Risikowaage Richtung Gefahr hin geneigt und bleibt das Restrisiko trotz den Reduktionsmassnahmen zu gross, habe ich stets die Freiheit, auf den Flug zu verzichten und das Wetter vom Boden aus zu beobachten. Der nächste gute Flugtag für mich kommt bald!

16 Fragen zu Mensch, Gelände, Verhältnisse und Luftraum

Nach vielen Entwürfen enthält der vorliegende Preflight Check einen Katalog von 16 Fragen, um unsichtbare Risiken in den Bereichen Mensch, Gelände, Verhältnisse und Luftraum sichtbar zu machen. Es finden sich Links zu Informationsquellen und Vorschläge für Reduktionsmassnahmen. Mit etwas Übung ist der Preflight Check in 15 Minuten erledigt. Es ist aber völlig in Ordnung, wenn er zu Beginn 1 Stunde Zeit in Anspruch nimmt.

Ein guter Zeitpunkt für den Preflight Check sind der Vorabend oder der Morgen vor dem Flugtag. Da stehen noch viele Möglichkeiten offen. Je näher ich am Startplatz bin, desto weniger Alternativen habe ich. Zudem verschiebt sich mein Bewusstsein immer wie mehr in den Handlungsmodus, der für analytische  Gedankengänge nur noch vermindert zugänglich ist. Spätestens, wenn mein Schirm ausgepackt ist, fällt mir ein Verzicht schwer. Vielleicht erreichen mich in dieser Situation noch die NO GO’s ganz am Schluss des Preflight Checks? Die kritischen Werte überprüfe ich vor dem Start erneut, denn nachher gibt es kein Zurück mehr; ich muss meinen wilden Bullen durchs Rodeo sicher zu Boden reiten. Je weiter vom Hang entfernt ich dies tue, desto erträglicher wird es für die Zuschauer sein.

Der schmale Grat zwischen Respekt und unnötiger Verunsicherung

Der Alpinismus und andere Disziplinen wie Luftfahrt oder Medizin sind sehr weit im Risikomanagement. Viel erprobtes Wissen steht zur Verfügung. Die Komplexität der bodennahen Meteorologie erfordert dennoch einige Verfeinerungen und ich fand bis jetzt kein Konzept, dass ich 1:1 übernehmen konnte. Im Chill Out Team ringen wir seit einem halben Jahr kontinuierlich um die Formulierung der Fragen, die  Gewichtung der Risiken und die Nützlichkeit der Reduktionsmassnahmen. Ein spannender und lehrreicher Prozess. In einigen Sachverhalten sind wir uns einig, in anderen gehen die Meinungen auseinander. Wir möchten den Rookie nicht unnötig verunsichern, aber trotzdem gewisse Risiken sichtbar machen.

Die Lösung liegt im «bewussten Piloten». Er kann gerade wegen dem gemachten Preflight Check entspannt fliegen, da er weiss, worauf heute zu achten ist. Nicht vorhandene Risiken dürfen an diesem Tag getrost auch mal ausgeblendet werden. Ja, es gibt trotzdem viele Tage oder Tageszeiten, wo völlig sorgloses Fliegen möglich ist; insbesondere im kuschelig geschützten Fluggebiet Interlaken.

Die Grenze zwischen «knapp fliegbar» und «knapp unfliegbar» ist fliessend und hängt zum grossen Teil von den Fähigkeiten des Piloten ab. Ich muss den Entschied letztendlich selber fällen. Der Preflight Check hilft primär, Fehler durch fehlendes Wissen zu vermeiden (Knowledge Based Errors). Für die Vermeidung von Fehlern aufgrund fehlender Fähigkeiten (Skill Based Errors), also ob ich die Bremse im entscheidenden Moment zu wenig oder zu fest ziehe, verweise ich gerne auf den Bereich des Skills Trainings >, des Skills Checks > oder ganz allgemein auf den Bereich Weiterbildung von Chill Out.

„Das muss auf den Bierdeckel passen, sonst geht es nicht in die Köpfe der Menschen“
Werner Munter

Leider sind alle meine Versuche bisher gescheitert, das Risikomanagement beim Gleitschirmfliegen auf einen Bierdeckel zu reduzieren. Das Netz wurde viel zu grobmaschig. Vielleicht findet jemand von euch eine schöne Lösung dafür? Vielleicht ist es die Aufgabe eines jeden Piloten, sich seinen persönlichen Bierdeckel mit Regeln zum Risikomanagement zurechtzulegen? Ansage von Bänz: Jeder persönliche Entwurf eines solchen Bierdeckels wird von mir mit einem Getränk aus dem Chill Out Kühlschrank gewürdigt! Werner Munter meinte mit dem Bierdeckel natürlich nicht die gesamte strategische Lawinenkunde, sondern eine simple und smarte Entscheidungshilfe im Gelände. Mehr dazu: bergundsteigen 4/07 >

Allen, die ihr nützliches Feedback zur Version 1 abgegeben haben, möchte ich an dieser Stelle nochmals danken! Ich habe die Feedbacks gewichtet und zur vorliegenden Version 2 des Preflight Checks verarbeitet. Mein Wunsch ist es, dass der Preflight Check verständlich und nützlich für den Rookie ist. Dem Unsicheren soll er Klarheit und Mut geben, dem allzu Sorglosen darf er ruhig etwas Respekt einjagen. Der Preflight Check soll nach Einsteins Worten «so einfach wie möglich, aber nicht einfacher» als das sein.

Hilf mir mit deinem Feedback!

Ob dies gelingt, erfahre ich nur aus deinem kritischen Feedback. Bitte lasse mir dein Feedback, deine Erfahrungen und deine Inspirationen zum Preflight Check zukommen: bendicht@chilloutparagliding.com

In rund einem Jahr überarbeite ich den Preflight Check zur V3 und bin sehr gespannt, wo das Projekt dann stehen wird. Bis dahin:

Viel Spass im Schulzimmer von Mutter Natur!

Deutsch: Preflight Check V2 DE (PDF) >

Englisch: Preflight Check V2 EN (PDF) >

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