Anleitung zum perfekten Unfall in der Flugschule

Ein paradoxer Ratgeber

Was ist ein paradoxer Ratgeber?

«Anleitung zum Unglücklichsein» titelt der Klassiker von Paul Watzlawick. Darin lernt die Leserschaft, wie man das Unglück im eigenen Leben erhöhen kann. Wer seine Beziehung ruinieren möchte, dem sei folgender Titel von Rainer und Claudia Sachse empfohlen: «Wie ruiniere ich meine Beziehung – aber endgültig». Und wer seinen narzisstischen Persönlichkeitsstil in den toxischen Bereich verschieben möchte, für den hält Rainer Sachse folgende Anleitung bereit: «Selbstverliebt – aber richtig. Paradoxe Ratschläge für das Leben mit Narzissten.»

Moralische Ratschläge sind zwar gut gemeint, aber ätzend:

  • «Man fliegt nicht bei Föhn!»
  • «Wolkenflug ist verboten!»

Die Wirkung von moralischen Ratschlägen bei aufregenden Freizeitaktivitäten ist gleich Null. Die psychologische Forschung deutet darauf hin, dass wir bei Aktivitäten, die starke positive Gefühle erzeugen, die Risiken unterschätzen und unsere Kontrollmöglichkeiten überschätzen (McCammon, 2004). Hinzu kommt, dass die Helden des Sports gelegentlich medienwirksam das Gegenteil vorleben und zur Belohnung in der Rangliste höher rücken. Da kann man sich Präventionskampagnen gleich ans Bein streichen.

Um die Stimmung nicht mit Moral zu trüben, bedient sich der paradoxe Ratgeber der Ironie und des schwarzen Humors. Es bleibt zu hoffen, dass die Leserschaft damit umgehen kann 😉

  • «Du möchtest auch endlich mal im Swissglider erwähnt werden? Gehe bei 10 hPa Südüberdruck in Meiringen fliegen. Halte per Helmkamera dein Erlebnis für die Nachwelt fest».
  • «Du bist der Meinung, dass Gleitschirmfliegen gesetzlich maximal eingeschränkt werden sollte? Wenn du in Interlaken Helikopter hörst, so fliege sofort in die Wolke und stets in Richtung der Geräuschquelle. Vollziehe die Kollision mit dem REGA-Helikopter wenn möglich über dem Kinderspielplatz der Höhenmatte.»

Startleiter Event zu Human Factors und Risiko

Am 29. Mai 2021 fand bei Chill Out ein Startleiter-Event zu Human Factors und Risiko statt. Ziel war es, einen paradoxen Ratgeber für Flugschulen zu verfassen: «Anleitung zum perfekten Unfall in der Flugschule». Dazu bedienten wir uns der Methode «Swiss Cheese Lotto», die am Ende des Artikels vorgestellt wird. Die Startleiter*innen arbeiteten in Kleingruppen und verfassten drei Geschichten.


YOFO

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Die Flugschule Yofo (you only fly once), die bei Bedarf im Sommer ab und zu geöffnet ist, geht unbekümmert an einen Startplatz, der total uneben und voller Löcher ist. In diesem Moment macht sich eine extrem risikofreudige Gruppe am oben genannten Starplatz bereit. Unter diesen Menschen befindet sich unser Macho-Flugschüler mit Bierranzen, der komplett beratungsresistent ist. Sein Helm und Notschirm liegen fachgerecht gelagert in seinem Regal zuhause.

Unterhalb des Startplatzes befindet sich eine perfekt geschlossene Nebeldecke. Der Fluglehrer, der komplett inkompetent ist, fragt die Schüler immer wieder, ob die Bedingungen noch fliegbar sind.

Die Startleiterin, die schon den ganzen Tag nur am rumnörgeln ist, bemerkt, dass eine Kaltfront im Anmarsch ist und drängt die Schüler zur Eile. Sie empfiehlt den Schülern, eine Steilspirale durch den Nebel zu machen, damit sie möglichst schnell zurück am Boden sind.

Unser Macho-Schüler spiralt nach einem so schlechten Start, wie er seit Anbeginn der Menschheit nicht gesehen wurde, durch die Nebeldecke. Er kommt dem Ende der Nebeldecke näher und sieht den Landeplatz auf sich zukommen. Er denkt sich: ich mache gleich noch eine Bodenspirale, um den bereits gelandeten Schülern zu zeigen, wie man landet. Was er aber übersehen hat: Der Landeplatz, an dem er noch nie vorher gelandet ist, ist übersät mit grossen Steinen.

Es kommt wie es kommen muss. Er schlingert zu nahe am Boden entlang und schlägt so unglücklich mit dem Schädel an einem Stein auf, dass er auf der Stelle tot am Boden liegt.

Dem SHV ist jegliche Unfallaufarbeitung zu mühsam, da sie bereits wissen, dass YOFO eine Hochrisiko-Schule ist.

Zuhause beim Macho-Schüler im Gestell liegt der perfekt gelagerte Helm, der noch zwei Jahre Garantie gehabt hätte.
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Autoren: Silas und Benj


Butterfly to Infinity

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Die Geschichte handelt von einer Flugschule in finanzieller Not. Da der SHV in der letzten Reform alle Schirme zu Schulungszwecken freigegeben hat, verkauft die Flugschule zwecks besserer Marge nur noch D-Schirme an Ihre Flugschüler. Vor kurzem hat der letzte Fluglehrer wegen ausstehender Lohnzahlung die Kündigung eingereicht. So hat die Geschäftsleitung kurzerhand entschieden, eine Fluglehrerlizenz zu fälschen.

Die ungünstige Situation macht sich auch unter den Startleitern bemerkbar. So war für den heutigen Schulungstag niemand bereit als Startleiter mitzuhelfen. In der Not wurde die Aufgabe auf einen brevetierten Gastpiloten aus dem Ausland übertragen, der nur über sehr wenig Deutschkenntnisse verfügte. So verstand der Startleiter auch die Anweisungen des Fluglehrers nicht, als dieser entschied, wegen dem aufziehenden Schneesturm den Schultag vorzeitig zu beenden. Obwohl die Flugschülerin die Anweisung sehr wohl verstanden hätte, wollte Sie unbedingt noch starten. Hatte Sie doch früher am Tag die Gruppe Akropiloten beobachtet und wollte beweisen, dass sie genauso gut fliegen kann.

Sie hat von diesen Piloten auch gehört, dass nur mit einem Leinenmesser geflogen werden sollte. Sie wusste zwar nicht warum, übte aber während des 5 Punkte-Checks fleissig mit ihrem Butterfly-Messer. Leider bemerkte sie nicht, dass dadurch ihr Tragegurt angeschnitten wurde. Die Gegebenheiten des kurzen Startplatzes mit einer steil abfallenden Klippe am Ende, wurden nun durch auffrischenden Abwind noch ungünstiger. Die Schülerin schaffte es trotzdem irgendwie, mit Ihrem Schirm abzuheben.

Da das Tal sehr eng war und die Windböen nun schon sehr stark wurden, dauerte es nicht lange, bis sie mitten über dem See im Tal flog. Die Schülerin bemerkte nicht, dass sie keine Möglichkeit mehr hatte, einen sicheren Landeplatz zu erreichen. Das einzige Ziel, das sie sich gesetzt hatte, war das Infinity Tumbling auszuprobieren.

Nach ein paar Versuchen begann sich der Schirm sehr schnell zu drehen. In dem Moment riss der angeschnittene Tragegurt. Der Schülerin blieb nichts anderes mehr übrig als den Notschirm zu werfen. Sobald sich der Notschirm entfaltet hatte, wurde sofort klar, dass sie mit einem viel zu kleinen Notschirm ausgestattet war.

Die Schülerin landete schlussendlich mit viel zu hoher Geschwindigkeit im See unten im Tal.
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Autor*innen: Alex, Jahn, Marc


Myst′AIR′ium Schnappizeller Wadenbeisser

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Wir begleiten die Flugschule MystAIRium. Diese hat eine relativ hohe Unfallquote. Dass der SHV lasche Ausbildungsvorgaben erlassen hat, kommt ihnen gerade recht.

Heute herrscht ein starker Südüberdruck. Andere Flugschulen in der Region haben heute keine Höhenflüge angesagt. Aber bei MystAIRium wird immer geflogen! Fluglehrer Brutus ist – freundlich ausgedrückt – ein eigenwilliger Kerl, der seine Schüller spüren lässt, was er von ihnen hält. Insbesondere auf den Schüler Päuli ist er gar nicht gut zu sprechen. Der ist ihm nämlich zu grossspurig und zu furchtlos. Um diesen endlich von seinem hohen Ross runter zu holen, packt Brutus heute dem Päuli mal einen C-Schirm in den Rucksack.

Unsere Gruppe wird vom Startleiter Freddy begleitet. Freddy ist zwar ein lieber Kerl, aber nicht gerade ein vorbildlicher Pilot. Fliegt er doch immer ohne Helm und ohne Handschuhe. Heute hat er gar Flipflops an und seine Tabakpfeife hängt sowieso immer in seinem rechten Mundwinkel.

Unsere Gruppe ist eine Horde junger, wilder Piloten, die sehr ambitioniert sind und sich gegenseitig zu Höchstleistungen anstacheln.

Schon bei der Fahrt zum Startplatz nehmen die Ausschmückungen ihrer bisherigen Flugerlebnisse galaktische Ausmasse an. Unser Pilot Päuli ist, wie schon angedeutet, ein besonderes Prachtexemplar der Gattung Para-Plagierer. Und weil er den galaktischen Paraplagier-Challenge heute gewonnen hat, macht er auch den Wind-Dummy.

Gerade als Päuli den Schirm aufzieht, kommt der giftige Schnappizeller Wadenbeisser vom Startplatzbauer wie ein Pfeil angeschossen und hängt im Nullkommanichts an Päulis Hosenbein. Startleiter Freddy will zu Hilfe eilen, doch mit seinen Flipflops rutscht er aus und fällt der Länge nach hin – er kann gerade noch seine Tabakpfeife vor dem Schlamm retten!

Päuli versucht derweil, in der Beschleunigungsphase den Schnappizeller vom Bein zu schütteln. Allerdings mit mässigem Erfolg, denn Plässi ist ein besonders verbissener Kerl. Im letzten Moment reisst Päulis Hosenbein und er gleitet mit nur wenigen Zentimetern Abstand über die ersten Baumwipfel hinweg. Zum Glück hat Fluglehrer Brutus dem Päuli heute einen C-Schirm untergejubelt, sonst hätte es vermutlich nicht über die Bäume gereicht!

Das Adrenalin rast noch durch Päulis Adern, als seine Gedanken schon zum Flugauftrag «Klapper» schweifen. In seiner Aufregung vergisst er allerdings, dass Fluglehrer Brutus beim Briefing eine Manöverbox definiert hat. Ausserdem will er nach diesem Startspektakel erst recht zeigen, was für ein ganzer Kerl er ist und macht sich – noch im Lee befindend – an das Manöver. Übermotiviert wie er ist, reisst er (statt der A-Leinen) mit viel Kraftaufwand und unter Beihilfe von Gewichtsverlagerung die kompletten (!) Tragegurte der rechten Seite herunter. Der Schirm klappt weg und dreht unverzüglich und sehr dynamisch ab.

Päuli wird immer mehr in den Sitz gedrückt und plötzlich dreht sich die ganze Welt nur noch um ihn. Im Hintergrund hört er noch den Fluglehrer Brutus eine Fanfare von Schimpf- und Fluchwörtern tröten, während er mit immer rasanterem Tempo dem Boden zu rast und irgendwann das Bewusstsein verliert.

Als er die Augen wieder öffnet, ist um ihn herum alles weiss. Päuli glaubt sich schon im Himmel zu wissen, als er Brutus flöten hört, was für ein unvergleichlicher Schwachkopf dieser Päuli doch sei! Jetzt erst realisiert Päuli, dass er nochmals Glück im Unglück hatte! Der viele Schnee, der letzte Nacht gefallen ist, hat seinen Aufprall abgefedert. Bis auf ein paar Blessuren und einem angeknacksten Ego, trägt Päuli keinen weiteren Schaden davon.
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Autor*innen: Team Heidi & Vättu

Die Methode: Swiss Cheese Lotto

Theorie: Das Swiss Cheese Model

Der englische Psychologe und Unfallforscher James Reason untersuchte Katastrophen in Industrie, Raumfahrt, Aviatik und Schiffahrt. Nebst der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl war auch die Explosion der Raumfähre Challenger Gegenstand seiner Forschung. Reason und sein Team kamen zum Schluss, dass die Unfälle nicht weniger werden, wenn man nur die «schlechten» Menschen ersetzt, welche den Fehler letzten Endes verursacht haben. Um die Sicherheit in einem System zu erhöhen, muss es als Ganzes betrachtet werden. Auf allen Ebenen einer Organisation können Sicherheitslücken bestehen.

Ein Zwischenfall ist stets eine unglückliche Verkettung vieler Faktoren. Auf zahlreiche Zwischenfälle ohne Folgen kommt in regelmässigen Abständen ein Unfall mit Folgen. Die Beinahe-Zwischenfälle weisen bereits auf Sicherheitslücken im System hin und bieten Gratislektionen – vorausgesetzt, die Organisation ist lernfähig. Schwere Unfälle künden sich meistens über viele kleine Beinahe-Zwischenfälle an.

In der Human-Factors-Forschung wird mit verschiedenen Modellen versucht, ein Ausschnitt an Wirklichkeit stark zu vereinfachen. Ein mögliches Modell ist das «Swiss Cheese Model» (Reason, 1990). Die Käsescheiben stellen Sicherheitsmassnahmen dar. Darin öffnen sich immer wieder Sicherheitslücken. Im Modell sind dies die Löcher im Käse. Es gibt aktive und latente Fehler.

  • Aktiver Fehler: Ein Pilot fliegt bei 35km/h Talwind ins Lee eines Gebäudes.
  • Latenter Fehler: LUV und LEE stehen nicht im Lehrplan der Flugschule, oder wurden vom Piloten nicht verstanden. Hier lauert Gefahr, sobald wir zum Piloten in der Luft 35 km/h Talwind und ein Gebäude hinzufügen.

Ständig wird von links im Bild auf die Käsescheiben geschossen. Meistens bleibt das Projektil in den vorderen Scheiben stecken: Der Zwischenfall hat keine Folgen; womöglich wird er gar nicht bemerkt. Je mehr Löcher die Scheiben enthalten, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine freie Schussbahn ergibt. Das Resultat eines solchen Durchschusses ist ein schwerer Unfall: Eine unglückliche Verkettung von vielen Faktoren auf mehreren Ebenen des Systems.

Der Perfekte Unfall in der Flugschule erfordert demzufolge, dass sich auf allen Käsescheiben viele Löcher öffnen. Genau diese Strategie verfolgt das «Swiss Cheese Lotto».

Übrigens:

Reason und sein Team empfehlen für die Erfassung von Beinahe-Zwischenfällen ein CIRS (Critical Incident Reporting System): Mittels anonymem Meldeportal können alle Beteiligten ihre Zwischenfälle und ihre Verbesserungsvorschläge mit geringem Aufwand melden. Durch die Anonymität bleibt ihr Gesicht gewahrt. Die Meldung bleibt straffrei. Der Vorteil der Anonymität: Es geht eine Unmenge an wertvollen Berichten ein und Sicherheitslücken im System können erkannt werden. Die Herausforderung: Führungspersonen und Mitarbeiter*innen mit hoher Kontrollüberzeugung (hat hier jemand «Kontrollillusion» gestänkert?) müssen sich mit ihren menschlichen Grenzen auseinandersetzen. Das braucht Mut und Neugierde – rettet jedoch über die Jahre hinweg einige Leben. In Aviatik, Industrie und Gesundheitswesen gehören CIRS unterdessen zur Unternehmenskultur hinzu. Es ist darauf hinzuweisen, dass in einigen Fällen erheblicher Druck seitens Gesetzgeber und Versicherungen nötig war.

Das Spiel: Swiss Cheese Lotto

Das System Flugschule wird in 12 Ebenen aufgeteilt. Vom Kopf des Fisches (BAZL, Verband, Flugschulleitung), bis hin zum Schwanz (Flugschüler*in und Flugauftrag).
Für diese 12 Ebenen werden von den Spieler*innen möglichst viele Sicherheitslücken gesucht und auf Karten geschrieben.

  • Verband (SHV) und BAZL
  • Flugschule (Leitung, Organisation, Führungsstil, Risikokultur, Werte und Normen)
  • Fluglehrer*in (Persönlichkeit, Risikokultur, Führungsstil, Erfahrung, Soft-Skills)
  • Startleiter*in (dito)
  • Gruppe
  • Meteo
  • Gelände: Startplatz
  • Gelände: Flugweg
  • Gelände: Landeplatz
  • Flugschüler*in (Persönlichkeit, Risikobereitschaft, Tagesform, Erfahrung, Wissen und Fähigkeiten)
  • Ausrüstung
  • Flugauftrag, Task

Jetzt kommt der Zufall ins Spiel. Im Anschluss werden die Karten gemischt und auf 12 Haufen verdeckt ausgelegt. Die Teams ziehen aus jedem Haufen ein «Käseloch» und schreiben mit dieser Kombination eine unterhaltsame Geschichte. Siehe oben.

Selbstverständlich würden für einen Unfall schon sechs Löcher im Käse genügen – doch wir wollen sicher gehen, dass es wirklich knallt und verdoppeln die Zahl. Denn Beinahe-Zwischenfälle kann ja schliesslich jeder! Für den perfekten Unfall in der Flugschule braucht es jedoch mehr als nur gelegentliche Sicherheitslücken. Es braucht die gemeinsame Anstrengung aller Beteiligten, die Augen und Ohren über die Jahre hinweg bestmöglich zu verschliessen.

Überblick Human Factors im Hängegleiten und in der Flugschule


Exkurs:
Warum heisst diese Rubrik «Risiko» statt «Sicherheit»?

Berg- und Flugsport leben vom Verlassen der sicheren Zone. Also bleibt die absolute Sicherheit auf dem Talboden zurück – und das ist gut so: Denn in einer potentiell risikoreichen Umgebung kann man seine Fähigkeit zur Kontrolle einer anspruchsvollen Situation erleben. Das schüttet im Hirn Glücksbotenstoffe aus. Was Spass macht, wiederholt man gerne. Entspricht die Schwierigkeit der Aufgabe den eigenen Fähigkeiten, kann sich zudem Flow-Erleben einstellen: Man vergisst sich selber und die Sorgen des Alltags. Man geht vollkommen auf im Hier und Jetzt. Meistens ist die Bühne des Geschehens eine wunderschöne Berglandschaft. Eine gute Gruppe ist dann noch das Sahnehäubchen.  Tönt nicht schlecht, oder?

Wer absolute Sicherheit vorzieht, der möge seine Hobbies in Richtung Minigolf oder Kaninchenzucht ausrichten. (Wobei man auf Golfbällen ausrutschen und ein Kaninchen Amok laufen kann).

Es ist übrigens völlig in Ordnung, wenn man sich in seiner Freizeit keinen Risiken aussetzen möchte. Dies ist ein gesundes und normales Bedürfnis. Gewisse Menschen ziehen aber einen Gewinn daraus, aufregende Umgebungen aufzusuchen. Es geht ihnen besser, wenn sie intensive Emotionen erleben. Etwas nüchtern ausgedrückt: Sie profitieren davon, ihre Angst kontrollieren zu können. Der Autor beobachtet dieses Persönlichkeitsprofil zu gewissen Graden an sich selbst. (Das Phänomen wird in der Persönlichkeitspsychologie mit dem Konstrukt  «Sensation Seeking» beschrieben.)

Einige Menschen haben einen faszinierenden Entdeckerdrang und die Fähigkeit, in fremde Lebensräume vorzustossen. Sie sind aber ohne Flügel geboren und von Natur aus nicht fürs Fliegen gemacht. Technische Hilfsmittel ermöglichen seit einem Jahrhundert den Traum vom Fliegen. Das «Fluggerät aus dem Rucksack» steht einer ganz kleinen Minderheit der Erdbevölkerung seit rund 40 Jahren zur Verfügung. Wenn wir grobe Fehler machen, so gewinnt die Erdanziehungskraft und beschleunigt uns in vier Sekunden freien Fall auf 140 km/h. Wer startet, setzt sich also automatisch gewissen Risiken aus (und will dies hoffentlich auch).

Mit dem eigenen Verhalten können diese Risiken in beide Richtungen beeinflusst werden. (In der Formel nach Munter ausgedrückt: Risiko = Verhältnisse / Verhalten).

  • Wer sich (z.B. für die Stabilisierung seines Selbstwertes) einer Situation mit hohen Risiken stellen möchte, wird im geländenahen Gleitschirmfliegen bei starkem turbulentem Wind gut bedient.
  • Ebenso können die Risiken mit angepasstem Verhalten klein gehalten werden, wenn jemand (z.B. als Ausgleich zum Alltag) eher an den ästhetischen Erfahrungen eines Sonnenuntergangsfluges mit Freunden interessiert ist.

Es gibt also viele gute Gründe, gewisse Risiken in der Freizeit auf sich zu nehmen: Im positiven Erlebnis Gleitschirmfliegen finden sich für gewisse Menschen wichtige Zutaten für die psychische Gesundheit.

«Le Vol Libre» – leider fällt mir kein treffendes deutsches Wort ein. Gleitschirmfliegen bedeutet Freiheit. Während der Alltag durch Pflichten und Vorschriften geregelt ist, findet sich im Gleitschirmfliegen eine kostbare Oase der Freiheit. Der Preis dafür ist jedoch die Selbstverantwortung. Niemand passt auf uns auf. Wir tragen zu 100% die Verantwortung für unsere Entscheide. Deshalb ist «Le Vol Libre» ein besonderer Sport, der besondere Anforderungen stellt. Während die Errungenschaften der Zivilisation die Bürger*innen vor den üblichen Gefahren des Lebens zu schützen versuchen, blieb im «Vol Libre» das Prinzip der natürlichen Auslese weitgehend erhalten: Wer sich dem Lebensraum nicht angepasst verhält und seine Fähigkeiten systematisch überschätzt, wird weniger Nachkommen zeugen. Dafür muss er sich nicht um die Altersvorsorge kümmern.

In Zahlen ausgedrückt: Auf 17’000 aktive Verbandsmitglieder in der Schweiz kommen jährlich im Schnitt 10 tote und 110 schwerverletzte Pilot*innen. Der Anteil im Flugschulbetrieb liegt im Schnitt bei 1 Todesfall und 7 Schwerverletzten. (SHV, 2020). Die Zahlen von Minigolf und Kaninchenzucht liegen dem Autor nicht vor.

Wenden wir uns noch einer weiteren Formel zu:

Risiko =
Eintrittswahrscheinlichkeit x Schadensausmass

Bild: Wikipedia, Doeni

Diese alternative Formel (nach Nohl) kann uns helfen, Risiken zu beurteilen.

Damit es bald mal richtig knallt, sollen beide Faktoren hoch gehalten werden. Angenommen, jemand möchte das Risiko für eine gefährliche Kollision mit einem Hindernis in der Startphase maximieren, so beraten wir ihn im Sinne des paradoxen Ratgebers wie folgt:

  • Eintrittswahrscheinlichkeit erhöhen (= es passiert oft):
    • Startplatz mit möglichst vielen Hindernissen
    • Schwierige Windverhältnisse
    • Hohes Stressniveau
    • Augen beim Abflug schliessen
    • Hektisch, grobmotorisch oder gar nicht steuern
    • Nie zum Groundhandling gehen
    • Blick auf das Hindernis fixieren
    • Überspringen der Kontrollphase
    • Ausblenden der Option «Startabbruch»
  • Schadensausmass erhöhen (= wenn es passiert, tut es so richtig weh):
    • Nur harte und kantige Hindernisse anfliegen (Haus, Fels, Baumstamm)
    • Punkt 10 m ab Boden anfliegen, damit nach dem Aufprall noch ein Absturz erfolgt
    • Ungebremst anfliegen
    • Rückenwindphasen nutzen
    • Kopf voran
    • Beine spreizen

Lohnendes Risiko

Risiko im Gleitschirmfliegen kann mit reflektiertem Verhalten in einen «lohnenden» Bereich verschoben werden: Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmass liegen in einem tiefen und akzeptablen Bereich. Das Restrisiko wird jedoch nie Null werden («Gravity never sleeps»). Für das Erleben der positiven Emotionen und der Flow-Zustände ist man bereit, sich diesem Restrisiko auszusetzen.

Es bleibt zu wünschen, dass diese Risiken bewusst gewählt werden und dass sich Novizen ernsthaft mit den anspruchsvollen Rahmenbedingungen des «Vol Libre» auseinandersetzen.

Das Restrisiko kann gegen das Glück und die Lebenszufriedenheit abgewogen werden, die aus dem «Vol Libre» resultieren. Das Restrisiko kann auch mit den Risiken des Alltags verglichen werden, wenn wir auf dem Boden bleiben: Von Grübeleien im stillen Kämmerlein, über Unfälle in Strassenverkehr, Haus & Garten bis hin zum amoklaufenden Kaninchen der Zuchtkategorie «Schwergewicht».


Bänz Erb, Juli 2021

Feedbacks und Erfahrungen bitte an bendicht@chilloutparagliding.com >


Weiterführende Literatur

  • BASPO Bundesamt für Sport (Hrsg.) (2019). Faktor Mensch. Sicher unterwegs sein. Magglingen: BASPO. PDF >
  • BRANDL, Peter. (2018). Crash Kommunikation. Warum Piloten versagen und Manager Fehler machen. 5. Auflage. Offenbach: GABAL.
  • IRSCHIK, Klaus (2011). Gleitschirmfliegen. Sicherheit und Unfallvermeidung. Stuttgart: Motorbuch.
  • RUOSS, Manfred. (2017). Zwischen Flow und Narzissmus. Die Psychologie des Bergsteigens. 2. Aufl. Bern: Hogrefe.
  • BLAWAT, Katrin. (2007). Risiko statt Sicherheit. Der Mensch sucht die Gefahr. In: Spiegel Wissenschaft.
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Fachliteratur:

  • BADKE-SCHAUB, Petra & HOFINGER, Gesine & LAUCHE, Kristina (Hrsg.). (2012). Human Factors. Psychologie sicheren Handelns in Risikobranchen. 2. Auflage. Berlin, Heidelberg: Springer.
  • MCCAMMON, Ian. (2004). Sex drugs and the white death: Lessons for avalanche educators from health and safety campaigns. Presented at the International Snow Science Workshop, 2004, Jackson, WY.
  • RAUE, Martina & LERMER, Eva & STREICHER, Bernhard (Hrsg.). (2018). Psychological Perspectives on Risk and Risk Analysis. Theory, Models, and Applications. Cham: Springer
  • REASON, James. (2008). The human contribution. Unsafe acts, accidents an heroic recoveries. Farnham: Ashgate.
  • ST.PIERRE, Michael & HOFINGER, Gesine. (2020). Human Factors und Patientensicherheit in der Akutmedizin. 4. Auflage. Springer, Berlin, Heidelberg.
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